Denken, Lernen und Erinnern unterscheiden sich bei verschieden starken Schülern. Das hat Konsequenzen für die Unterrichtsarbeit.
Nach den Ausführungen in diesem Beitrag verfügen wir über ein pragmatisches Modell des Denk- und Lernvorgangs beim Menschen. Obwohl die darin beschriebenen Abläufe bei allen Menschen gleich sind, erleben wir regelmäßig, dass verschiedene Personen doch mitunter sehr unterschiedlich auf identische Impulse reagieren (z. B. auf Erklärungen). Was den einen bereits überfordert, stellt für den nächsten gar kein Problem dar. Dieses wohlvertraute Phänomen ist nicht unbedingt eine Folge unterschiedlicher Intelligenzen – wenn man Intelligenz als grundsätzliches Verarbeitungsvermögen des Gehirns auffassen will. Vielmehr kann der Unterschied auch darin begründet sein, dass die notwendigen Prozesse bei verschiedenen Individuen unterschiedlich stark entwickelt sind bzw. (noch) nicht genügend Schemata zu ihrer effizienten Bewältigung zur Verfügung stehen.
"Experten" vs. "Anfänger"
Von Seiten der Wissenschaft werden diese Unterschiede bei Lernenden oft in der Gegensätzlichkeit von “Experten” (“experts”) und “Anfängern” (“novices”) beschrieben. Nun scheint es übertrieben, im Hinblick auf unsere Schüler von “Experten” oder “Anfängern” zu sprechen. Was Mathematik angeht, sind sie im strengen Sinn weder das eine noch das andere. Sie verfügen aber sehr wohl über unterschiedlich ausgeprägte fachliche Kompetenzen (bzw. “Expertisen”). Die Unterschiede bestehen übrigens nicht nur zwischen Personen sondern auch zwischen Teilbereichen. So kann ein und derselbe Schüler stark in Algebra sein, aber schwach in Stochastik. Oder er ist kein guter Problemlöser, aber gut darin, Algorithmen korrekt auszuführen.
“Experte” und “Anfänger” sind also relative Begriffe. Sie bezeichnen in unserem Zusammenhang Schüler, die auf dem Weg zur Expertise in verschiedenen Bereichen verschieden weit sind.
Es ist hinlänglich nachgewiesen, dass Experten und Anfänger ganz unterschiedlich denken und lernen. “Experten” kennen nicht nur mehr Fakten und Prozeduren, verfügen also nicht nur über mehr Wissen, sondern haben dieses Wissen auch besser schematisiert, vernetzt und automatisiert als Anfänger. Diese vergleichsweise höher entwickelte Organisation hilft ihnen dabei, ihr Arbeitsgedächtnis in seinen engen Grenzen viel besser nutzen zu können. Wenn es beispielsweise darum geht, einen neuen Sachverhalt zu verstehen, rufen Experten nicht etwa nur lose assoziierte Wissenselemente aus ihrem Langzeitgedächtnis ab, die ihre Denkkapazitäten schnell auslasten würden. Stattdessen laden sie gut entwickelte Schemata ins Arbeitsgedächtnis, die dort noch Platz lassen für die neuen Elemente, die mit den vorhandenen Objekten vernetzt werden sollen. Anfänger können dies leider nicht, da sie solche Schemata (noch) nicht ausgebildet haben. Die Schematisierung und Strukturierung erfordert nämlich Zeit, Engagement und Mühe, die den Lernenden leider auch nicht durch irgendwelche pädagogischen Finessen erspart werden kann.
Die Unterschiede im Denken von Experten und Anfängern
Experten unterscheiden sich von Anfängern in Bezug auf Wissen, Anstrengungsbereitschaft, Problemerkennung, Problemanalyse, Generierung von Strategien, Gedächtnisnutzung und Überwachung ihres eigenen Tuns (Monitoring). Diese Unterschiede sind vor allem auf Unterschiede in der Struktur des Langzeitgedächtnisses zurückzuführen. Damit kommen wir zurück auf unser Modell aus diesem Beitrag. Es veranschaulicht, was in unseren Köpfen geschieht, wenn wir lernen: Die Struktur des in unserem Gehirn gespeicherten Schemata-Netzwerks verändert sich. Verknüpfungen im Langzeitgedächtnis werden umstrukturiert oder neu gebildet, wenn wir eine Fähigkeit erwerben bzw. vertiefen oder ein Konzept verstehen.
Mit bildgebenden Verfahren ist es tatsächlich möglich, bei Experten und Anfängern unterschiedliche Aktivierungsmuster im Gehirn zu beobachten, wenn diese an einem Problem arbeiten. Experten verfügen nicht nur über einen größeren und besser vernetzten Wissensbestand im Langzeitgedächtnis und damit über eine oft größere Effizienz bei der Verarbeitung von Informationen im Arbeitsgedächtnis. Sie können zudem noch weitere Hirnregionen “anzapfen” und nutzbar machen, die Anfängern (noch) nicht zur Verfügung stehen.
Merkmale mathematischer Expertise
Für die Mathematik gibt es zwei relevante Merkmale von Expertise: 1.) das Vorhandensein von Automatismen, und 2.) die Fähigkeit, Tiefenstrukturen zu erkennen. Schauen wir uns beide Merkmale in Beispielen an.
1. Das Vorhandensein von Automatismen
Betrachten Sie die folgende Aufgabenstellung:
Bestimme 20 % von 400 €.
20 % von 400 € sind 80 €.
Wie gehen Sie bei einer solchen Aufgabe vor? Wie viel Zeit und Mühe kostet es Sie, die Lösung zu ermitteln? Vermutlich nicht viel. Die Antwort von 80 € dürfte Ihnen fast sofort eingefallen sein, ohne dass Sie sich wirklich bewusst wurden, welche Prozesse dafür bei Ihnen abgelaufen sind. Dies ist ein Automatismen-Effekt: Sie haben sofort das Prozentzeichen und seine Bedeutung erkannt, und Sie wissen natürlich, dass 20 % dasselbe ist wie ein Fünftel. Solches Wissen ist bei Ihnen automatisiert und nimmt daher keinen Platz mehr in Ihrem Arbeitsgedächtnis ein – deswegen wird es Ihnen ja auch nicht bewusst. Sie haben außerdem das Verfahren zum Bestimmen eines Fünftels automatisiert, so dass Sie ein Fünftel von 400 € im Handumdrehen berechnen konnten (z. B. 2\cdot 400 € : 10 ). Auch dafür mussten Sie Ihr Arbeitsgedächtnis nicht belasten.
All dies gelingt Ihnen, weil Sie (mutmaßlich) ein Experte sind. Wahrscheinlich könnten Sie diese Aufgabe auch dann noch lösen, wenn im Hintergrund Musik läuft und Sie zeitgleich eine Mahlzeit zubereiten und eine Unterhaltung führen. Der Umstand, dass Sie einen Großteil des Wissens, das zur Lösung der Aufgabe notwendig ist, automatisiert haben, sorgt für Platz in Ihrem Arbeitsgedächtnis – Platz, der frei ist, um unbelastet zu agieren und sich neben der Aufgabenlösung sogar noch anderen Dingen widmen zu können.
Ein Anfänger in der Prozentrechnung erlebt dies ganz anders. Wahrscheinlich wird auch er in der Lage sein, 20 % von 400 € zu bestimmen. Allerdings fordert ihn das Finden der Lösung mehr, weil kaum etwas automatisiert abläuft. Der Anfänger muss sich zunächst erinnern, was das %-Zeichen bedeutet. Er weiß vielleicht auch noch gar nicht, dass 20 % dasselbe ist wie ein Fünftel (hat dieses Schema also noch nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert). Also bestimmt er zunächst einmal 1 %. Dazu muss er ggf. kurz überlegen, wie man das macht (ach ja, durch 100 teilen). Die Rechnung muss sodann noch glücken. Dann rechnet er vielleicht auf 10 % hoch und multipliziert anschließend mit 2, um zu 20 % zu gelangen. Oder er rechnet direkt “mal 20”. In jedem Fall treibt er viel mehr Aufwand als ein Experte und belastet in allen Schritten sein (begrenztes) Arbeitsgedächtnis.
Beide, Experte wie auch Anfänger, können die Aufgabe schließlich lösen. Für den Experten aber ist es weniger anspruchsvoll, weil sein bereichsspezifisches Grundlagenwissen schon automatisiert ist. Es kostet ihn auch weniger mentale Energie.
In einen wassergefüllten Zylinder mit einem Innendurchmesser von 9 cm wird eine Stahlkugel gelegt. Der Pegel steigt daraufhin um 3 cm. Berechne, welchen Durchmesser die Kugel hat.
Aus \small V_K=\frac{4}{3}\pi r_K^3 und \small V_{\text{Wasser}} = \pi r_Z^2\cdot \Delta h = \pi\cdot (4,5\text{ cm})^2 \cdot (3 \text{ cm}) sowie dem Ansatz \small V_K = V_{\text{Wasser}} wird \small r_K = \sqrt[3]{ \frac{3}{4} \; \Delta h \cdot{r_{Z}^{2}}} \approx 3,6 \text{ cm} .
Der Durchmesser der Kugel beträgt also rund 7,2 cm.
Haben Sie die Lösung dieses Mal auch sofort gesehen? Erfahrungsgemäß wird diese Aufgabe sowohl von Experten wie auch von Anfängern als anspruchsvoll empfunden. Der Unterschied ist jedoch, dass dem Experten ein großer Teil des benötigten Grundwissens zur Lösung der Aufgabe in Form von Automatismen zur Verfügung steht. Er muss keine Mühe aufwenden, um darüber nachzudenken, wie die Formeln für Kugel- und Zylindervolumen aussehen, was die einzelnen Terme in diesen Formeln bedeuten, wo man welche Zahlen einsetzt, wie man sie dann quadriert oder mit 3 potenziert, wie man eine dritte Wurzel berechnet oder was \pi bedeutet. Weil diese Details sein Arbeitsgedächtnis nicht belasten, verbleibt ihm genügend freie Kapazität, um sich den eigentlichen Lösungsweg zu überlegen und diesen zu strukturieren. Es ist daher nicht nur wahrscheinlicher, dass der Experte die Aufgabe löst, sondern auch, dass er dabei etliches neu hinzulernt.
Ein Anfänger hingegen, der über die relevanten Automatismen nicht verfügt, wird sich wahrscheinlich in den vielen Einzelheiten der Aufgabe verzetteln, eine kognitive Überlastung erleben und wenig oder gar nichts lernen. Welche Konsequenzen sich für uns als Lehrkräfte daraus ergeben, führe ich später noch aus. Zunächst aber werfen wir einen Blick auf das zweite Merkmal mathematischer Expertise.
2. Die Fähigkeit, Tiefenstrukturen zu erkennen
Zu verstehen, worum es bei mathematischen Problemen wirklich geht, gehört zum Schwierigsten, was Schülerinnen und Schüler im Fach lernen müssen. Das Verständnis dafür ist nämlich keine Fähigkeit in dem Sinne, wie etwa das Addieren zweier Brüche eine Fähigkeit ist. Der Blick für die Tiefenstruktur ist vielmehr ein übergreifendes Expertenmerkmal, zu dessen Erwerb es viel Zeit und Erfahrung braucht. Betrachten Sie dazu einmal die folgende Aufgabe und fragen Sie sich, worum es in dieser Aufgabe geht.
Das Durchschnittsalter der deutschen Fußballnationalmannschaft liegt bei 27 Jahren. Das Alter des Spielers X. beträgt nur 7/9 dieses Durchschnitts. Berechne, wie alt Spieler X. ist.
\frac{7}{9}\cdot 27=7\cdot \frac{27}{9} = 7\cdot 3 = 21
Spieler X ist 21 Jahre alt.
Wie lange haben Sie gebraucht, um zu erkennen, dass diese Aufgabe nichts anderes von Ihnen will, als 7/9 von 27 zu berechnen? Interessanter noch: Wie ist es Ihnen gelungen, die irrelevanten, potenziell ablenkenden Begriffe wie “Alter”, “Fußball”, “Mannschaft” und den vielleicht größten Distraktor “Durchschnitt” zu ignorieren? Die Antwort hat wieder damit zu tun, dass Sie ein Experte sind. Ihre Erfahrung bei der Bearbeitung vieler ähnlicher Aufgaben, das beträchtliche Wissen, das Sie im Langzeitgedächtnis gespeichert haben und – nicht weniger wichtig – die Art und Weise, wie dieses Wissen organisiert ist (in Automatismen), ermöglichen es Ihnen, die Oberflächenmerkmale zu übergehen und die Tiefenstruktur der Aufgabe zu durchschauen.
Wären alle Ihre Schüler in der Lage, das gleiche zu tun – zum Kern dessen zu gelangen, was in der Aufgabe gefragt wird? Ich wäre mir bei meinen Schülern durchaus nicht so sicher. Die Fähigkeit, die Tiefenstruktur eines Problems zu erkennen, und die unwichtigen Oberflächenstrukturen zu ignorieren, ist ein Schlüsselmerkmal von Expertentum und hat große Bedeutung für die Problemlösefähigkeiten eines Menschen.
Der "Fluch des Wissens"
Uns Lehrkräften kann es bisweilen schwer fallen, die beiden eben beschriebenen Hauptunterschiede im Denken und Lernen von Anfängern und Experten stets im Blick zu behalten. Der Grund dafür liegt darin, dass wir selbst Experten sind und daher gewohnheitsmäßig wie Experten denken und handeln. Im Kontext von Unterricht leiden wir damit unter dem “Fluch des Wissens”.
Der “Fluch des Wissens” ist der Grund, warum gutes Fachwissen allein nicht ausreicht, um ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin zu sein, und warum es auch nicht immer funktioniert, starke Schüler zu bitten, jenen zu helfen, die Schwierigkeiten haben. Anfänger sind oft nicht in der Lage, die Automatismen von Experten nachzuvollziehen, und umgekehrt nehmen Experten (unbewusst) oft zu wenig Rücksicht auf die bei Anfängern viel schnellere Auslastung des Arbeitsgedächtnisses. Die vielfach beschworene Unterrichtsstrategie, den Schülern ein mustergültiges fachliches Vorbild zu geben, das sie nur nachzumachen hätten, kann dann natürlich nicht aufgehen.
Zu verstehen, wie unterschiedlich Schüler denken und sich darauf einzustellen, gelingt den meisten Lehrkräften mit wachsender Erfahrung immer besser. Dies kann das Ergebnis einer guten Ausbildung oder einer reflektierten Praxis sein. Wichtig ist aber vor allem eine grundsätzlich offene und sensible Haltung, die die Mühen ernst nimmt, die Schüler haben, wenn sie noch keine Experten in den jeweils behandelten Bereichen sind, d. h. wenn sie über die benötigten Automatismen nicht verfügen und die Tiefenstruktur nicht durchschauen.
Schlussfolgerungen
Angeblich von Goethe stammt das Zitat: “Behandle die Menschen so, als wären sie, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können.” Das klingt optimistisch. Nun bin ich ziemlich sicher, dass Goethe nicht Mathematik unterrichtet hat. Wäre er dann vorsichtiger mit dieser Formulierung gewesen? Die heutigen Erkenntnisse zeigen jedenfalls: Wir sollten unsere Schüler durchaus nicht allesamt so unterrichten, als wären sie schon Experten in dem, was sie erst noch lernen sollen. Das wäre für zu viele eine Überforderung. Stattdessen müssen wir behutsam, schrittweise ihre Entwicklung zu Experten fördern.
Die Ausbildung von Automatismen spielt dabei eine zentrale Rolle. Es ist das Unterscheidungsmerkmal zwischen Experten und Anfängern und wird nur durch Üben erlangt. Dies müssen sich alle vor Augen führen, die Wissen nur noch gering schätzen und modisch predigen, dass man eigentlich nur noch wissen müsse, wo man nachzuschlagen hätte. Im Gegensatz dazu gilt: Bereichsspezifisches Wissen hilft unseren Schülern, klarer (d. h. verknüpfungsfähig) zu denken, sich weiteres (verknüpfungsfähiges) Wissen anzueignen, um Probleme zu lösen, selbständig immer mehr zu lernen und stärker zu werden. Uns Lehrkräften hilft ein großer Wissensbestand andererseits, die optimalen Unterrichtstechniken zu identifizieren, die wir einsetzen sollten, um den Schülerinnen und Schülern beim effektiven Lernen tatsächlich zu helfen – und nicht nur sie beim Lernen zu begleiten.
Wenn wir nicht dafür sorgen, dass unsere Schüler Wissen erwerben, verurteilen wir sie dazu, immer Anfänger zu bleiben.
In den anderen Artikel in diesem Themenkreis geht es deshalb vor allem darum, wie wir den Schülern am besten helfen können, das für sie nötige Wissen zu identifizieren, zu erwerben und zu behalten.
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