Die kognitive Architektur des Gehirns: Warum Anleitung im Mathematikunterricht effektiver ist

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Dr. Michael Glaubitz

mathematik-unterrichten.de

Wenig Zeit? Dann gibt es hier einen Audio-Podcast zu diesem Thema.

Als Mathematiklehrerinnen und -lehrer stehen wir oft vor der Frage: Wie bringen wir unseren Schülerinnen und Schülern mathematische Konzepte und Problemlösungsstrategien am effektivsten bei? Sollen wir sie selbst entdecken lassen, nach dem Motto „Learning by Doing“, oder sollen wir ihnen klare Anleitungen geben? Eine fundierte Antwort auf diese Frage liefert die moderne Erkenntnis über die menschliche kognitive Architektur.

Die Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und lernt, hat einen signifikanten Einfluss auf die Effektivität unterschiedlicher Lehransätze. Lehrverfahren, die diese Strukturen ignorieren, sind wahrscheinlich nicht effektiv.

Das gängige Modell der kognitiven Architektur (basierend auf Atkinson & Shiffrin, 1968) unterscheidet zwischen Sensorischem Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis. Für den Lernprozess sind die Beziehungen zwischen Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis von entscheidender Bedeutung.

Das Langzeitgedächtnis: Die Basis für Expertise

Früher wurde das Langzeitgedächtnis oft nur als passiver Speicher angesehen. Heute wissen wir, dass es die zentrale, dominante Struktur der menschlichen Kognition ist. Alles, was wir wahrnehmen oder worüber wir nachdenken, hängt kritisch von unserem Langzeitgedächtnis ab. Unsere Fähigkeit, alltägliche oder komplexe Dinge zu tun, basiert auf der riesigen Informationsmenge, die dort gespeichert ist.

Expertise im mathematischen Bereich (und jedem anderen) resultiert daraus, dass Experten auf umfangreiche, im Langzeitgedächtnis gespeicherte Erfahrungen und Schemata zurückgreifen, um Probleme schnell zu erkennen und effiziente Lösungswege zu wählen.

Das Ziel aller Instruktion ist es, das Langzeitgedächtnis zu verändern. Wenn sich im Langzeitgedächtnis nichts geändert hat, hat kein Lernen stattgefunden. Jede didaktische Empfehlung sollte spezifizieren können, wie sie zur Veränderung des Langzeitgedächtnisses beiträgt.

Das Arbeitsgedächtnis: Der Engpass bei neuen Informationen

Das Arbeitsgedächtnis ist der Ort, an dem bewusstes Verarbeiten stattfindet. Wir sind uns nur der Informationen bewusst, die gerade im Arbeitsgedächtnis aktiv sind.

Ein entscheidendes Merkmal des Arbeitsgedächtnisses ist seine starke Begrenzung in Dauer und Kapazität, insbesondere beim Verarbeiten von neuen Informationen. Neue, nicht wiederholte Informationen gehen innerhalb von 30 Sekunden verloren, und die Kapazität ist auf eine sehr kleine Anzahl von Elementen begrenzt – möglicherweise nur zwei oder drei, wenn aktiv verarbeitet wird.

Diese Grenzen gelten jedoch nur für neue, noch nicht im Langzeitgedächtnis gespeicherte Informationen. Wenn wir uns mit bereits gelernten Informationen beschäftigen, die aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden, verschwinden diese Einschränkungen weitgehend. Es gibt keine bekannten Grenzen für die Menge solcher vertrauten Informationen, die ins Arbeitsgedächtnis gelangen können.

Die Auswirkungen auf den Mathematikunterricht: Warum minimale Anleitung für Anfänger oft nicht funktioniert

Lehransätze, die die Grenzen des Arbeitsgedächtnisses bei neuen Informationen ignorieren oder das Verschwinden dieser Grenzen bei vertrauten Informationen nicht berücksichtigen, sind wahrscheinlich nicht effektiv.

Sogenannte minimal geleitete Instruktionsansätze (wie Entdeckendes Lernen, Problem-Based Learning, forschungsbasiertes Lernen), die die Lernenden oft unvorbereitet mit komplexen Problemen konfrontieren, scheinen genau dies zu tun.

Problemlösung, die oft im Zentrum minimal geleiteter Ansätze steht, belastet das Arbeitsgedächtnis enorm. Die Suche nach einer Problemlösung in einem unbekannten Problemraum bindet einen Großteil der begrenzten Arbeitsgedächtniskapazität.

Das Problem dabei: Diese hohe Arbeitsgedächtnisbelastung trägt kaum zum Aufbau von Wissen im Langzeitgedächtnis bei. Während das Arbeitsgedächtnis mit der Problemsuche beschäftigt ist, steht es nicht für den Lernprozess zur Verfügung. Man kann lange suchen und fast nichts lernen, was das Ziel ist….

Warum starke Anleitung, insbesondere für Anfänger, effektiver ist

Im Gegensatz dazu reduzieren stark geleitete Ansätze die Arbeitsgedächtnisbelastung und lenken die Aufmerksamkeit gezielt auf den Lernprozess. Ein Paradebeispiel sind gelöste Beispiele (Worked Examples).

Das Studieren gelöster Beispiele reduziert oder eliminiert die Notwendigkeit der Problemsuche und lenkt die Arbeitsgedächtnisressourcen darauf, die wesentlichen Schritte und Beziehungen innerhalb der Problemlösung zu verstehen. Dies fördert den Aufbau von Problemlösungs-Schemata im Langzeitgedächtnis. Zahlreiche Studien, oft im Kontext von Algebra und anderen mathematischen Problemstellungen, haben die Überlegenheit des Studierens gelöster Beispiele gegenüber dem reinen Problemlösen bei Anfängern belegt – der sogenannte Worked-Example Effect.

Auch andere Formen der Anleitung, wie z.B. Prozessarbeitsblätter, die Phasen und Tipps zur Problemlösung bieten, können die Leistung und das Lernen positiv beeinflussen, da Lernende mit Anleitung diejenigen übertreffen, die Verfahren selbst entdecken müssen.

Der Expertise-Umkehreffekt: Anleitung an den Lernfortschritt anpassen

Unser Wissen über das Arbeits- und Langzeitgedächtnis erklärt auch den Expertise-Umkehreffekt. Geleitete Methoden sind für Anfänger am effektivsten, weil diese nicht über genügend Wissen im Langzeitgedächtnis verfügen, um eine unproduktive Suche zu vermeiden. Mit zunehmender Expertise, wenn die Lernenden über relevante Schemata im Langzeitgedächtnis verfügen, wird Anleitung weniger notwendig oder kann sogar hinderlich werden. Starke Anleitungen nützen tendenziell weniger fähigen Lernenden, schwächere Anleitungen eher fähigeren Lernenden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, die Anleitung dem Wissenstand der Schülerinnen und Schüler anzupassen.

Fazit für den Mathematikunterricht

Die Erkenntnisse der kognitiven Wissenschaft sind eindeutig: Das Ignorieren der Grenzen des Arbeitsgedächtnisses führt zu ineffektivem Lernen. Für das effektive Lernen von Mathematik, insbesondere für Schülerinnen und Schüler, die mit einem Thema neu beginnen, sollten wir Lehransätze wählen, die die kognitive Belastung (Cognitive Load) minimieren und den effizienten Aufbau von Wissen (Schemata) im Langzeitgedächtnis fördern….

Dies bedeutet in der Praxis:

  • Starke Anleitung und explizite Erklärungen sind für die Einführung neuer mathematischer Konzepte und Verfahren entscheidend….
  • Der gezielte Einsatz von gut strukturierten gelösten Beispielen kann das Lernen deutlich effektiver gestalten als reines “Problemelösen lassen”….
  • Wir müssen die Anleitung reduzieren, wenn die Expertise der Lernenden wächst….
  • Das Ziel ist nicht, dass Schüler die Methode der “Entdeckung” praktizieren, sondern dass sie den mathematischen Inhalt und die Lösungsverfahren lernen und im Langzeitgedächtnis speichern….

Indem wir unseren Unterricht an der tatsächlichen Funktionsweise des menschlichen Gehirns ausrichten, können wir sicherstellen, dass unsere Schülerinnen und Schüler Mathematik effektiver und effizienter lernen. Es geht darum, vom “fuzzy and unproductive world of ideology” zum “sharp and productive world of theory-based research on how people learn” zu wechseln.

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