Intelligenz: Der Schlüssel zum Bildungserfolg
Wie oft haben wir uns schon gefragt, warum manche Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht scheinbar mühelos neue Konzepte verstehen und anwenden, während andere trotz aller Bemühungen unsererseits kämpfen? Wir optimieren unsere Methoden, setzen auf differenzierte Aufgaben, nutzen digitale Medien – und doch bleiben die Unterschiede im Lernerfolg oft beträchtlich.
Eine provokante Perspektive hierzu liefert der Psychologe Douglas K. Detterman in seinem Artikel “Education and Intelligence: Pity the Poor Teacher because Student Characteristics are more Significant than Teachers or Schools” (2016). Seine Kernthese, gestützt auf jahrzehntelange Forschung, ist ernüchternd und entlastend zugleich: Der Löwenanteil dessen, was den schulischen Erfolg ausmacht, liegt in den Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler selbst begründet.
Was sagt die Forschung? Der Schüler im Fokus
Detterman argumentiert, dass seit Beginn der Aufzeichnungen über Bildung der Fokus oft zu stark auf Schulen und Lehrkräften lag, anstatt auf den Lernenden selbst. Er stellt fest, dass in entwickelten Ländern nur etwa 10% des schulischen Erfolgs auf Schulen und Lehrkräfte zurückgeführt werden können, während die restlichen 90% mit den Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler zusammenhängen. Von diesen 10% entfallen auf die Lehrkräfte je nach Studie und Bildungsebene lediglich 1% bis 7% der Gesamtvarianz.
Das klingt erstmal hart, oder? Man fühlt sich vielleicht in seiner Rolle als Lehrkraft herabgesetzt. Aber Detterman will uns nicht entmutigen, sondern den Blick weiten.
Ein Gedankenexperiment zur Veranschaulichung
Um seine These zu untermauern, schlägt Detterman ein Gedankenexperiment vor:
- Szenario 1: 50 Lehrkräfte werden anhand ihrer Lehrqualität auf zufällig zusammengestellte Klassen à 20 Schüler verteilt. Man korreliert die Lehrqualität mit dem durchschnittlichen Lernzuwachs der Klassen.
- Szenario 2: 50 Klassen à 20 Schüler werden gebildet, indem die fähigsten Schüler der Reihe nach auf die Klassen verteilt werden. Die Lehrkräfte werden diesen Klassen zufällig zugewiesen. Man korreliert das mittlere Fähigkeitsniveau der Schüler in jeder Klasse mit dem durchschnittlichen Lernzuwachs.
Dettermans Prognose: Der Lernzuwachs wird im zweiten Szenario wesentlich besser durch die Fähigkeiten der Schüler vorhersagbar sein (Korrelationen bis zu r=0.95) als im ersten Szenario durch die Lehrqualität (Korrelationen bis zu r=0.32).
Der “Elefant im Raum”: Intelligenz
Wenn also 90% des Lernerfolgs mit den Schülern zusammenhängen, was sind dann diese “Schülereigenschaften”? Detterman identifiziert hier einen Hauptfaktor: die allgemeine kognitive Fähigkeit, oder Intelligenz. Er schätzt, dass Intelligenz zwischen 50% und 80% dieser 90% ausmacht, die auf Schülermerkmale entfallen.
Studien stützen diese Annahme:
- Der Coleman-Report (1966), eine der größten Bildungsstudien in den USA, fand heraus, dass der Großteil der Varianz im Lernerfolg innerhalb der Schulen lag (also zwischen den Schülern) und nur zu 10-20% zwischen den Schulen. Die Qualität der Lehrkräfte erklärte hier nur etwa 1% der Gesamtvarianz. Diese Ergebnisse wurden auch 40 Jahre später für Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen bestätigt.
- Eine Studie zum Einfluss von Colleges und Universitäten zeigte, dass Studentenmerkmale wie SAT-Ergebnisse (ein Studierfähigkeitstest), Hauptfach und Geschlecht 93% der Varianz in den GRE-Mathematikwerten (ein Test für Graduiertenprogramme) vorhersagen konnten. Die besuchte Institution erklärte also maximal 7%.
- Zwillingsstudien, die untersuchten, ob Zwillinge dieselbe oder unterschiedliche Klassen besuchten, kamen zu dem Schluss, dass maximal 8% der Varianz im Lese- und Schreiberfolg auf unterschiedliche Lehrkräfte zurückzuführen sind.
- Direkte Schätzungen von Lehrereffekten in großen Datensätzen (z.B. aus Florida und North Carolina) zeigen, dass Lehrkräfte für etwa 3,0% bis 6,7% der Varianz im Schüler-Lernerfolg verantwortlich sind, während alle schulbezogenen Faktoren zusammen auf ca. 9,2% bis 9,6% kommen. Über 90% bleiben also den nicht-schulischen, meist schülerbezogenen Faktoren überlassen.
Detterman betont, dass es nicht darum geht, Lehrkräfte für irrelevant zu erklären. Innerhalb des schulischen Kontextes sind sie oft der wichtigste Faktor, wenn man die Schülercharakteristika ignoriert. Aber ihr Einfluss auf die Gesamtvarianz des Lernerfolgs sei eben begrenzt.
Was bedeutet das für uns Mathematiklehrkräfte?
Diese Perspektive kann durchaus Sprengkraft für unser Selbstverständnis als Mathematiklehrkräfte haben. Sollen wir jetzt resignieren? Keineswegs! Aber vielleicht können wir ein paar Dinge mitnehmen:
- Realistische Erwartungen: Wir können nicht aus jedem Kind ein Mathegenie machen, egal wie sehr wir uns anstrengen. Die mitgebrachten Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler spielen eine immense Rolle. Das anzuerkennen, kann auch Druck nehmen.
- Fokus auf den Schüler: Wenn die Schülermerkmale so entscheidend sind, müssen wir uns noch intensiver mit ihnen auseinandersetzen. Was motiviert sie? Wo liegen ihre individuellen Stärken und Schwächen, jenseits des reinen Fachwissens? Wie können wir Lernumgebungen schaffen, die besser zu den unterschiedlichen genetischen Veranlagungen passen?
- Bedeutung der Diagnose: Eine gute Diagnostik der Lernvoraussetzungen, auch der kognitiven Fähigkeiten, wird umso wichtiger. Nicht um zu stigmatisieren, sondern um bestmöglich individuell fördern zu können.
- Wertschätzung unserer Arbeit: Auch wenn unser Beitrag zur Gesamtvarianz vielleicht kleiner ist als gedacht, leisten wir innerhalb des Systems Schule einen wichtigen Beitrag. Detterman selbst sagt: “Teachers should be appreciated for the difficult task they face.”.
- Grenzen der Reformen: Detterman mahnt, dass Bildungsreformen, die sich nur auf Schulen und Lehrkräfte konzentrieren, ohne die Schüler und insbesondere die menschliche Intelligenz vollständig zu verstehen, kaum tiefgreifende Veränderungen bewirken werden.
Einordnung und Ausblick
Dettermans Thesen sind sicherlich diskussionswürdig und rütteln an manchen Grundfesten. Sie basieren jedoch auf einer Fülle von empirischen Daten. Es geht nicht darum, die Bedeutung von gutem Unterricht zu negieren. Vielmehr plädiert Detterman dafür, den Blick zu weiten und die enormen Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern als wesentlichen Faktor für Lernerfolg anzuerkennen und besser zu verstehen.
Vielleicht ist diese Perspektive ja auch ein Stück weit entlastend. Sie erinnert uns daran, dass wir wichtige Begleiter im Lernprozess sind, aber nicht die alleinigen Architekten des Erfolgs oder Misserfolgs unserer Schülerinnen und Schüler.
Was denken Sie darüber? Wie stark schätzen Sie den Einfluss von Schülermerkmalen im Vergleich zu Ihrem Unterricht im Fach Mathematik ein? Schreiben Sie es gern in die Kommentare!
Quelle: Detterman, D. K. (2016). Education and Intelligence: Pity the Poor Teacher because Student Characteristics are more Significant than Teachers or Schools. The Spanish Journal of Psychology, 19, e93, 1-11.
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