Ersichtlich zufällige Gruppen (Visibly Random Groups)

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Dr. Michael Glaubitz

mathematik-unterrichten.de

Vor kurzem habe ich einen Artikel von Peter Liljedahl gelesen, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Gruppenbildungsstrategie im Mathematikunterricht am effektivsten ist (s. Ressourcen). Dabei wurde festgestellt, dass die Verwendung von „ersichtlich zufälligen“ Gruppierungen eine bessere Strategie ist als andere Methoden.

Aber was genau bedeutet „ersichtlich zufällige“ Gruppenbildung? Es ist eine Methode, um Gruppen innerhalb einer Klasse oder eines Kurses zufällig zu bilden, während die Schülerinnen und Schüler den Prozess beobachten können. Dies kann beispielsweise durch das Ziehen von Namen aus einem Hut oder durch den Einsatz von Gruppennummern oder Spielkarten erfolgen. Im Gegensatz dazu gibt es andere, konventionellere Formen der Gruppenbildung, wie zum Beispiel die Wahl von Gruppenmitgliedern durch die Lehrperson oder die Schülerinnen und Schüler selbst, die auf Basis von Interessen oder Fähigkeiten ausgewählt werden.

Der Hauptunterschied zwischen „ersichtlich zufälliger“ und anderen Formen der Gruppenbildung besteht darin, dass „ersichtlich zufällige“ Gruppenbildung dazu beitragen kann, Vorurteile und Voreingenommenheiten zu minimieren, die – bewusst oder unbewusst – bei der Auswahl von Gruppenmitgliedern durch die Lehrkraft oder die Schülerinnen und Schüler selbst auftreten können. Wenn Sie derjenige sind, der die Gruppen zusammensetzt und dabei nach Leistungseinschätzungen auswählt, merken Kinder und Jugendliche das meistens sehr schnell, also sollten Sie sich vorher überlegen, wie Sie den Schülern Ihre Auswahl erklären wollen – und welche Botschaft Sie eigentlich mit Ihrer Auswahl aussenden.

Wenn die Gruppenbildung aber zufällig erfolgt und dies für alle Schülerinnen und Schüler ersichtlich ist, haben alle die gleiche Chance, mit verschiedenen Mitschülerinnen und Mitschülern zusammenzuarbeiten, unabhängig von ihren sozialen, ethnischen oder leistungsbezogenen Hintergründen. In der Regel wird dies von allen Schülerinnen und Schülern als fair empfunden, selbst wenn sie es gelegentlich für sozial ungemütlicher halten.

Zusätzlich kann „ersichtlich zufällige“ Gruppenbildung auch dazu beitragen, die Motivation der Schülerinnen und Schüler zu steigern, da sie möglicherweise mehr Verantwortung für ihre Arbeit innerhalb der Gruppe übernehmen, wenn sie nicht einfach in eine Gruppe mit ihren Freunden oder vertrauten Mitschülerinnen und Mitschülern gesteckt werden.

Ein wichtiges Element der „ersichtlich zufälligen“ Gruppenbildung ist zudem ihre regelmäßige, konsequente Anwendung. Indem man jede Gruppenbildung „ersichtlich zufällig“ durchführt, vermeidet man, dass Schülerinnen und Schüler sich immer nur mit denselben Leuten zusammenschließen oder dass Gruppen nach Leistungsniveau gebildet werden.

Doch warum ist die Bildung von „ersichtlich zufälligen“ Gruppen im Mathematikunterricht so effektiv? Die positiven Auswirkungen dieser Methode sind sowohl fachlicher als auch sozialer Natur. Ein großer Vorteil ist beispielsweise eine gesteigerte Beweglichkeit des Wissensaustausches zwischen den Schülerinnen und Schülern. Wenn Schülerinnen und Schüler in stets unterschiedlichen Gruppen arbeiten, lernen sie, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten besser untereinander zu teilen und voneinander zu lernen. Dies führt letztlich für alle zu einem verbesserten Verständnis der Themen und einer höheren fachlichen Kompetenz.

Ein weiterer Vorteil von „ersichtlich zufälligen“ Gruppen ist eine verringerte Abhängigkeit von der Lehrkraft als bei anderen Formen der Gruppenbildung. Dies ist eine direkte Folge der Kooperation der Schülerinnen und Schüler untereinander. So wird also nicht nur die soziale Kompetenz sondern auch die Selbstständigkeit gefördert.

Zudem trägt die Methode dazu bei, soziale Barrieren im Klassenzimmer zu beseitigen und die Schülerinnen und Schüler einander näherzubringen. Indem Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Gruppen arbeiten und immer wieder neu zusammengewürfelt werden, haben sie die Möglichkeit, mit verschiedenen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden zusammenzuarbeiten. Dies fördert das Verständnis füreinander und kann helfen, Konflikte oder Vorurteile zu reduzieren.

Neben diesen primären (und auch naheliegenden) Vorteilen gibt es auch weitere positive Auswirkungen von „ersichtlich zufälligen“ Gruppen im Mathematikunterricht, die nicht gleich auf der Hand liegen. Eine davon ist eine gesteigerte Motivation und erhöhtes Engagement bei mathematischen Aufgaben. Wenn Schülerinnen und Schüler in Gruppen arbeiten und regelmäßig ihre Arbeitsergebnisse präsentieren können, ohne immer wieder in eingeübte Passiv-Rollen zu fallen (TEAM = „Toll, ein and’rer macht’s“), steigt ihr Selbstvertrauen und ihr Interesse am Fach. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Schülerinnen und Schülern kann als motivierend empfunden werden und das Lernen insgesamt anregender werden.

Umsetzung und Herausforderung

Die Umsetzung von „ersichtlich zufälliger“ Gruppenbildung im Mathematikunterricht ist in der Praxis kein Problem. Wie schon beschrieben kann der Vorgang schnell und effizient mit Farb- oder Spielkarten oder mit Namenstafeln vorgenommen werden. Digitale Hilfsmittel sind geeignet, wenn sie nicht eine intransparente Blackbox darstellen, in der Schülerinnen und Schüler dann doch einen in irgendeiner Form datengefütterten Algorithmus vermuten können, der die Gruppenbildung beeinflusst.

Bei der Verwendung von „ersichtlich zufälligen“ Gruppen im Mathematikunterricht können natürlich auch einige Herausforderungen auftreten. Eine davon ist die Schwierigkeit, die darin besteht, dass Gruppen gebildet werden, dir nur Schülerinnen und Schüler mit geringen Kompetenzen enthält. Das kann dazu führen, dass eine solche Gruppe insgesamt schlechter abschneidet oder weniger erreicht. Ein weiteres Problem kann auftreten, wenn manche Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten haben, in Gruppen miteinander zu arbeiten, beispielsweise aufgrund von Konflikten oder persönlichem Unbehagen. In diesem Fall ist es wichtig, mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern Lösungen zu finden, die für alle Beteiligten akzeptabel sind. Pauschale Rezepte dafür gibt es natürlich nicht. Allerdings ist die Aufregung und der potenzielle „Schaden“ in der Regel ohnehin sehr begrenzt und vernachlässigbar, da die Gruppen von Stunde zu Stunde bzw. von Gelegenheit zu Gelegenheit neu gebildet werden und der langfristige Nutzen der Methode klar überwiegt.

Fazit

Insgesamt ist die Verwendung von „ersichtlich zufälligen“ Gruppen im Mathematikunterricht eine effektive Methode, um sowohl fachliche als auch soziale Kompetenzen zu fördern. Durch die Bildung von „ersichtlich zufälligen“ Gruppen können Schülerinnen und Schüler ihr Wissen und ihre Fähigkeiten besser miteinander teilen und voneinander lernen. Zudem wird die Abhängigkeit von der Lehrkraft reduziert und soziale Barrieren im Klassenzimmer beseitigt. Wenn diese Methode sorgfältig umgesetzt wird, kann sie sogar dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schüler sich mehr für Mathematik begeistern und aktiver am Unterricht beteiligen. Meine eigenen Erfahrungen bestätigen diesen Befund.

Tipps

Nach den Ergebnissen von Liljedahl (2014) führen die folgenden Tipps zum Erfolg, wenn Sie „ersichtlich zufällige Gruppen“ in Ihrem Klassenzimmer einsetzen:

  • Verwenden Sie „ersichtlich zufällige Gruppen“ häufig, damit die Schülerinnen und Schüler verstehen, dass es eine Selbstverständlichkeit in Ihrem Unterricht ist.
  • Wechseln Sie die Gruppen jede Stunde.
  • Dreiergruppen funktionieren am besten, aber für die Primarstufe sollten es Zweiergruppen sein.
  • Geben Sie den Schülern ein klares Ziel vor, auf das sie hinarbeiten sollen.

Weitere Ideen

Es gibt sogar noch weitergehende Ideen zur Randomisierung und zum Aufbrechen verkrusteter oder ineffizienter Sozialstrukturen in einer Klasse: Paul Seligson, ein bekannter TEFL-Autor und Lehrerausbilder, hat in Barcelona einen Workshop über Klassenraummanagement gehalten und die Meinung vertreten, dass Schülerinnen und Schüler niemals in festen Gruppen „versteinern“ dürfen. Er ist der Meinung, dass dies der Dynamik im Klassenzimmer schadet, und ich stimme ihm darin voll und ganz zu. Er meint ferner auch, dass die Schülerinnen und Schüler nicht einmal zwei Unterrichtsstunden hintereinander auf demselben Platz sitzen sollten. In seinem Klassenzimmer hängt ein Poster mit der Aufschrift „Bitte wechselt nach jeder Stunde den Platz. Wenn ihr das nicht tut, muss ich euch versetzen. Das Leben ist kurz, bitte bewegt euch.“ Wie Erwachsene neigen auch Teenager dazu, immer auf demselben Platz zu sitzen und mit denselben Leuten zu arbeiten. Auch wenn sie sich gelegentlich dagegen sträuben, versetzt zu werden, kann es für die Gruppe als Ganzes aber wirklich von Vorteil sein, wenn wir unsere Schülerinnen und Schüler regelmäßig durchmischen. Ich selbst habe die Seligson-Methode des ständigen Umsetzens in meinem eigenen Unterricht allerdings noch nicht versucht. Wer mehr Erfahrung hat, sollte sich darum gern bei mir melden! 🙂

„Ersichtlich zufällige Gruppenbildung” ist eine von drei Maßnahmen, die Liljedahl vorgeschlagen hat, um aus Klassenzimmern „Denkräume“ zu machen (vgl. den entsprechenden Artikel hier). Die anderen Maßnahmen betreffen den Einsatz von problemorientierten Denkaufgaben gleich in der Anfangsphase einer Stunde (Beispiele für solche Aufgaben hier) und die Verwendung von „Vertical Non Permanent Surfaces“ (VNPS) bei der Bearbeitung derselben.

Ressourcen

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