Viele Lehrkräfte, Lernende, aber auch Eltern glauben, dass einige Menschen von Natur aus mathematisch begabt sind. Was meinen Sie? Stimmt es, dass manche Schülerinnen und Schüler geborene Mathematiker(innen) sind?
Angeborene und erworbene Fähigkeiten
Entwicklungspsychologischen Theorien zufolge gibt es zwei Arten von Fähigkeiten: Einerseits solche, die biologisch primär genannt werden. Sie sind i. d. R. angeboren, d. h. sie entstehen aufgrund unserer entwickelten kognitiven Strukturen rein instinktiv. In den meisten Fällen haben solche Fähigkeiten einen evolutionsgeschichtlichen Vorteil bedeutet und sich entsprechend durchgesetzt. Beispiele hierfür sind soziale und kommunikative Fähigkeiten, wie z. B. der Spracherwerb.
Daneben gibt es auch biologisch sekundäre Fähigkeiten. Diese sind erworben, d. h. sie werden durch formelle oder informelle Unterweisung oder Ausbildung in einem kulturellen Kontext erlernt und haben evolutionsgeschichtlich keinen Vorteil geboten. Beispiele dafür sind das Lesen und Schreiben sowie der größte Teil der Mathematik. Algebra etwa oder höhere Arithmetik haben in der Evolution keine Rolle gespielt.
In einigen wenigen, ganz elementaren Bereichen der Mathematik vermutet man zwar primäre (d. h. angeborene) Fähigkeiten. So nimmt man beispielsweise an, dass die experimentell bestätigte Fähigkeit von Kleinkindern und auch von manchen Tieren, die Anzahl von bis zu fünf Objekten mit einem Blick zu erfassen ohne zu zählen (sog. „subitzing“, auf deutsch „Simultanerfassung“) oder auch einfache Rechnungen in diesem Zahlenbereich durchzuführen, eine primäre, d. h. angeborene Fähigkeit ist. Der springende Punkt ist jedoch, dass quasi die gesamte darüber hinausgehende Mathematik ihrem Wesen nach biologisch sekundär und damit keinem Menschen angeboren oder in die Wiege gelegt ist.
Der Mensch hat sich also zwar so entwickelt, dass er von Natur aus einige wenige mathematische Grundfertigkeiten mitbringt, die die Grundlage für komplexere Fertigkeiten bilden. Doch niemand besitzt eine natürliche Veranlagung, Algebra oder auch nur das Einmaleins in der Weise zu lernen, wie er oder sie etwa das Sprechen lernt. Mathematische Fähigkeiten jenseits des Subitizing bilden sich nicht von selbst heraus, sie müssen vielmehr gelernt und dann auch eingeübt werden. Es ist ausgeschlossen, dass dies von selbst geschieht, wenn man die Schülerinnen und Schüler einfach nur wiederholt in mathematisch konnotierte Umgebungen eintauchen lässt oder sie mit mathematisch gehaltvollen Herausforderungen konfrontiert. Anders gesagt: Es genügt nicht, Mathematik den Lernenden einfach darzubieten (Frontalunterricht) oder den Schülerinnen und Schülern bloß Begegnungen bzw. Lerngelegenheiten zu ermöglichen (offener Unterricht).
Der Großteil der Schulmathematik ist biologisch sekundär. Niemandem ist sie in die Wiege gelegt. Sie muss gelehrt werden.
Nach allem, was wir heute wissen, ist niemand ein geborener Mathematiker oder eine geborene Mathematikerin. Alle Menschen brauchen Hilfe beim Erlernen von biologisch sekundären Fähigkeiten – von allein geschieht es nicht. Die Annahme, dass die Schülerinnen und Schüler sich sekundäres Wissen genauso aneignen könnten wie primäres, ist sehr wahrscheinlich falsch.
Die Frage ist natürlich, wie man ihnen am besten helfen kann. Es spricht einiges dafür, dass ein Unterrichtsansatz, der nur wenig Anleitung beinhaltet, nicht optimal sein dürfte. Es ist eher anzunehmen, dass den Schülerinnen und Schülern bessern gedient ist, wenn Expertinnen und Experten – also gut ausgebildete Lehrkräfte – ihnen Wissen und Fertigkeiten auf strukturierte und zugängliche Weise aktiv vermitteln und dabei bewährte Prinzipien beachten. Dass ein solches Vorgehen effektiver ist als offene Ansätze, haben Studien immer wieder gezeigt. Wie und warum das im einzelnen funktioniert, werde ich in den weiteren Beiträgen dieses Themenkreises besprechen.
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