Der Einfluss von Lehrkräften und Schülermerkmalen auf den Lernerfolg
Viele Mathematiklehrkräfte kennen sicherlich das bekannte Fazit aus John Hatties umfangreichen Studien: “Auf den Lehrer kommt es an!” Diese Botschaft hat die pädagogische Diskussion stark geprägt und die Bedeutung der Lehrpersönlichkeit sowie effektiver Unterrichtsmethoden unterstrichen. Doch was, wenn andere Forschungsbefunde ein scheinbar anderes Bild zeichnen? In einem unserer früheren Beiträge haben wir die Thesen von Douglas K. Detterman vorgestellt. Er argumentiert, dass Schülermerkmale den Löwenanteil des Lernerfolgs ausmachen. Wie passen diese Perspektiven zusammen? Widersprechen sie sich fundamental, oder können sie nebeneinander bestehen und uns wertvolle Impulse für unseren Mathematikunterricht geben?
Kurz erinnert: Was sagt Detterman?
Zur Auffrischung: Dettermans Analysen kommen zu dem Schluss, dass individuelle Schülermerkmale, allen voran die allgemeine kognitive Fähigkeit (Intelligenz), einen überwältigenden Anteil an der Varianz der Schülerleistungen erklären – er spricht von bis zu 90%. Demgegenüber scheinen Faktoren, die Schulen und Lehrkräften zuzuordnen sind, nur etwa 10% der Gesamtvarianz zu beeinflussen. Der direkte Einfluss von Lehrkräften auf die Gesamtvarianz wird sogar noch geringer eingeschätzt, im Bereich von 1% bis 8%. Detterman folgert, dass eine wirkliche Verbesserung von Bildung erst möglich wird, wenn wir die Rolle der Schülermerkmale, insbesondere der Intelligenz, tiefgreifend verstehen und berücksichtigen.
Die Perspektive von John Hattie
John Hatties Arbeit “Visible Learning” fasst eine riesige Anzahl von Meta-Analysen zusammen, um herauszufinden, welche Faktoren innerhalb des schulischen und unterrichtlichen Kontextes die größten positiven (oder negativen) Effekte auf die Lernleistungen von Schülern haben. Sein oft zitierter Befund ist, dass die Lehrperson und spezifische Aspekte ihres Handelns (wie Klarheit, Feedback, Lehrer-Schüler-Beziehung) zu den einflussreichsten Faktoren gehören – eben: “Auf den Lehrer kommt es an.” Hattie vergleicht also die relative Wirksamkeit verschiedener pädagogischer Interventionen und Variablen im direkten Bildungsgeschehen.
Ein scheinbarer Widerspruch – oder eine Frage der Perspektive?
Auf den ersten Blick wirken die Aussagen konträr. Hier lohnt es sich jedoch, genauer hinzusehen:
- Unterschiedliche Fragestellungen und Ebenen der Analyse:
- Hattie fokussiert darauf, welche Interventionen und Faktoren innerhalb des Systems Schule und Unterricht am wirksamsten sind, um Lernprozesse zu optimieren. Er schaut sozusagen mit einer Lupe auf das, was Lehrkräfte und Schulen tun können.
- Detterman analysiert, welchen Anteil verschiedene breite Faktorenbündel (vereinfacht: “alles, was der Schüler mitbringt” versus “alles, was Schule und Lehrer beitragen”) an der gesamten Streuung der Schülerleistungen in einer Population haben.
- Dettermans Anerkennung der Lehrerrolle im System: Auch Detterman bestreitet nicht, dass Lehrkräfte wichtig sind. Er betont, dass Lehrerinnen und Lehrer innerhalb des schulischen Kontexts sehr wohl den größten Einfluss haben können, insbesondere wenn man die Schülermerkmale als gegeben betrachtet oder statistisch kontrolliert. Er formuliert: “Lehrereffekte auf den schulischen Erfolg sind wahrscheinlich die größte Komponente der schulischen Faktoren, wenn Schülermerkmale ignoriert werden.”. An anderer Stelle merkt er an: “Wenn man sich auf die Schule konzentriert, dann ist es nicht überraschend, dass der Fokus von Forschern und Reformern auf Lehrern lag, die wahrscheinlich die Hauptbeitragenden zu den schulischen Leistungen innerhalb der Schulen sind.”.
- Prozent von Was? Der Unterschied zwischen Effektstärke und Varianzaufklärung:
- Hatties Effektstärken (z.B. Cohens d) geben an, wie stark sich eine bestimmte Maßnahme im Durchschnitt auswirkt oder wie groß der Unterschied zwischen zwei Gruppen ist.
- Dettermans Prozentsätze beziehen sich darauf, wie viel der gesamten beobachteten Unterschiede (Varianz) in den Leistungen aller Schülerinnen und Schüler durch bestimmte Faktorengruppen erklärt werden können. Eine Variable kann einen signifikanten Effekt haben, aber dennoch nur einen kleinen Teil der Gesamtvarianz erklären, wenn andere Faktoren noch viel stärkere Unterschiede bedingen.
Was bedeutet das nun für uns im Mathematikunterricht?
Die Koexistenz dieser Forschungsergebnisse kann für uns als Lehrkräfte folgende Implikationen haben:
- Keine Entwertung der Lehrperson: Unsere professionelle Kompetenz, unsere Unterrichtsgestaltung und unsere Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern sind und bleiben entscheidend dafür, wie gut das Lernen innerhalb unseres Einflussbereichs gelingt. Hier geben Hatties Ergebnisse wertvolle Hinweise.
- Realistische Erwartungen und Demut: Wir müssen anerkennen, dass die individuellen Voraussetzungen, die Schülerinnen und Schüler mit in den Mathematikunterricht bringen (kognitive Fähigkeiten, Vorwissen, Motivation, familiärer Hintergrund etc.), einen enormen Einfluss auf ihre Lernwege und -ergebnisse haben. Wir können diese Unterschiede nicht einebnen, aber wir können versuchen, jeden Einzelnen bestmöglich zu fördern.
- Bedeutung von Diagnose und Differenzierung: Dettermans Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, die individuellen Lernvoraussetzungen unserer Schülerinnen und Schüler genau zu diagnostizieren und unseren Unterricht entsprechend differenziert zu gestalten.
- Entlastung und Fokus: Die Erkenntnis, dass nicht aller Erfolg (und Misserfolg) allein bei uns als Lehrkräften liegt, kann entlastend wirken. Sie schärft den Blick dafür, was wir realistisch beeinflussen können und wo die Grenzen unseres Wirkens liegen. Detterman argumentiert, dass wir die 90% der Varianz, die mit den Schülern zusammenhängen, tiefer verstehen müssen, um Bildung wirklich und grundlegend zu verbessern.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Befunde von Hattie und Detterman müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Sie beleuchten unterschiedliche, aber gleichermaßen wichtige Aspekte des komplexen Bildungsgeschehens. Hattie zeigt uns, dass und wie wir als Lehrkräfte im Unterricht einen bedeutsamen Unterschied machen können, indem wir auf effektive Strategien setzen. Detterman erinnert uns daran, dass das große Bild der Leistungsunterschiede sehr stark von den individuellen Voraussetzungen der Lernenden geprägt ist und fordert ein tieferes wissenschaftliches Verständnis dieser Faktoren für eine grundlegende Weiterentwicklung von Bildung.
Für unseren Alltag im Mathematikunterricht bedeutet dies, unsere professionelle Expertise bestmöglich einzusetzen, um qualitativ hochwertigen Unterricht zu gestalten, und gleichzeitig die tiefgreifenden Unterschiede unserer Schülerinnen und Schüler anzuerkennen, wertzuschätzen und pädagogisch darauf einzugehen.
Wie sehen Sie dieses Zusammenspiel der verschiedenen Forschungsperspektiven? Ich freue mich auf Ihre Gedanken und Erfahrungen in den Kommentaren!