Treffen die Lernenden die besseren Entscheidungen?

Dr. Michael Glaubitz
Dr. Michael Glaubitz

mathematik-unterrichten.de

In vielen Formen modernen Unterrichts ist es üblich, den Lernenden oft selbst die Entscheidung zu überlassen, was und wie sie lernen wollen. Das kann z. B. bedeuten, dass sie selbst wählen dürfen, welche Themen, Arbeitsblätter, Aufgaben etc. sie bearbeiten wollen. Oft ist dies Teil einer umfassenden pädagogischen Zielsetzung, die die Schülerinnen und Schüler dazu erziehen soll, mehr Verantwortung für ihr Lernen und überhaupt für sich selbst zu übernehmen.

Die Intention erscheint plausibel und funktional, zumal Untersuchungen zufolge Wahlmöglichkeiten auch förderlich auf die Motivation von Lernenden wirken können.  Autonomiestreben und Selbstbestimmungsziele gelten als ein wesentliches Element von Motivation. Dies bedeutet, dass es intrinsisch motivierend sein kann, den Schülerinnen und Schülern ein Gefühl der Kontrolle über ihr Lernen zu geben. Aber treffen die Lernenden dann auch wirklich die richtigen Entscheidungen, die ihr Vorwärtskommen optimal fördern?

Gemäß wissenschaftlichen Untersuchungen leider nicht. Vielmehr begegnet man regelmäßig drei hauptsächlichen Problemen, wenn man den Lernenden Auswahl und Kontrolle ihrer Aktivitäten weitgehend überlässt: 

  1. Fehlender Überblick: Die Lernenden sind möglicherweise nicht in der Lage, sowohl die Anforderungen einer vorgelegten Aufgabe als auch ihre eigenen Lernbedürfnisse in Bezug auf diese Aufgabe richtig einzuschätzen. Auch ein Schüler mit besten Absichten vermag möglicherweise gar nicht, aus mehreren Alternativen die Aufgaben auszuwählen, die für seine Lernbedürfnisse am besten geeignet wären. Dazu müsste er nämlich sowohl den Inhalt der Aufgaben wie auch seine eigenen Stärken und Schwächen zutreffend beurteilen können. Es ist nicht verwunderlich, dass das den Lernenden schwer fällt bzw. nicht gelingt, wenn es sich z. B. um unbekannte Aufgaben zu einem möglicherweise neuen Thema handelt.
  2. Verharren im Vertrauten: Die Lernenden wählen oft das, was sie am besten können, und nicht das, was das Richtige für sie wäre. Insbesondere üben die meisten Lernenden weiterhin Aufgaben, die sie sowieso schon gut beherrschen, und scheuen sich, mit neuen, ihnen noch unbekannten Aufgaben anzufangen. Nicht nur die Forschung hat dieses Verhalten aufgedeckt, ich selbst habe es unzählige Male bei meinen eigenen Schülerinnen und Schülern erlebt. Dadurch treten Lernende zu lange auf der Stelle und entwickeln sich nicht weiter.
  3. Auswahlparadoxon: Menschen freuen sich eigentlich, wenn sie eine Wahl treffen dürfen, aber je mehr Optionen ihnen angeboten werden, desto schwerer fällt ihnen die Entscheidung. Mehr Auswahl bedeutet fast immer auch mehr Bedauern über das, was man nicht gewählt hat. Das gilt in einem Restaurant mit einer langen Speisekarte genauso wie in einer Mathematikstunde. Wenn ich meinen Schülerinnen und Schülern die Freiheit lasse, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen, höre ich von vielen tatsächlich: “Sagen Sie mir doch einfach, welche ich machen soll.
 

Die hier zusammengetragenen Erkenntnisse sind eigentlich schon lange bekannt. Einschlägige Forschungsarbeiten kommen zum Schluss, dass Schülern oft diejenigen Methoden am meisten Spaß machen, bei denen sie am wenigsten lernen. Das gilt für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler genauso wie für leistungsstärkere. 

Die schwächeren Schülerinnen und Schüler bevorzugen oft die weniger lehrergelenkten Unterrichtsmethoden (wie z. B. das entdeckende Lernen), – vermutlich weil diese Methoden es ihnen erlauben, ein niedriges und anstrengungsarmes Niveau beizubehalten, auf dem ihre Defizite nicht so sichtbar werden. Diese Schülerinnen und Schüler würden in der Regel jedoch mehr von eher lehrergeleiteten Methoden profitieren (z. B. von direkter Instruktion), die ihre Informationsverarbeitungsprozesse beim Lernen entlasten. 

Umgekehrt bevorzugen starke Schülerinnen und Schüler strukturiertere Methoden (wie z. B. ausgearbeitete Beispiele). Von denen glauben sie, viel lernen zu können, und doch scheint auch hier eher das Gegenteil richtig zu sein. Solche Methoden fordern sie nämlich nicht genügend und vermindern damit ihren eigentlich möglichen Fortschritt (man nennt dies den Expertise-Reversal-Effekt). Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler scheinen tatsächlich mehr aus weniger lehrergeleiteten Ansätzen zu lernen (z. B. durch selbständiges Lösen von Problemen), die es ihnen ermöglichen, ihr vorhandenes Wissen anzuwenden und ihre mentalen Schemata weiterzuentwickeln.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Vorlieben und Auswahlentscheidungen von Schülerinnen und Schülern wahrscheinlich von subjektiven Empfindungen des Wohlbefindens beeinflusst werden, die ihren eigentlichen Bedürfnissen entgegenstehen. 

Aber spielt es denn wirklich eine Rolle, wenn die Schüler keine optimale Wahl treffen? Schließlich wirkt das Gefühl der Autonomie und Kontrolle über das eigene Lernen doch mutmaßlich motivierend, und Motivation wiederum begünstigt das Lernen.

Hier hat sich aber gezeigt: Suboptimale bzw. falsche Auswahlentscheidungen sind klar nachteilig. Das hat zwei Gründe. Erstens wirken sich, wie eben dargestellt, die von den Schülern getroffenen (falschen) Entscheidungen unmittelbar negativ auf ihr Lernen aus, weil sie nur wenig Förderung oder Weiterentwicklung bewirken. Zweitens vereiteln sie auf diese Weise echte Erfolgserlebnisse, die ja ebenfalls als wichtiger (vielleicht sogar als der wichtigste) Motivationsfaktor gelten. Damit machen  falsche Entscheidungen jeden Motivationsgewinn gleich wieder zunichte. Wenn man also den Schülern zu viele (falsche) Entscheidungen überlässt, kann es passieren, dass sie das Schlimmste aus beiden Welten bekommen: Sie lernen weniger, weil sie die unpassenden Inhalte wählen, und ihre Motivation verbessert sich ebenfalls nicht, weil echte Erfolgserlebnisse ausbleiben. 

Lässt sich dieses Problem lösen? Ja, aber die Antwort klingt möglicherweise etwas ernüchternd: Wir sollten den Schülerinnen und Schülern einfach nicht zu viele Wahlmöglichkeiten gewähren. Wenn wir etwa eine sorgfältig konzipierte Abfolge von Beispielen und Aufgaben oder eine zielführende Übung geplant haben, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, wichtige Schlüsselfertigkeiten zu üben bzw. ihre Problemlösefähigkeiten zu schulen, dann möchten wir sicherstellen, dass sie diese Abfolge auch wirklich durchlaufen. Immerhin haben wir uns einiges bei ihrer Konzipierung gedacht und unser Wissen um die fachlichen Zusammenhänge einerseits und die Bedarfe der Lernenden andererseits genutzt – Wissen, das wir als Lehrerinnen und Lehrer unseren Schülerinnen und Schülern nun einmal voraus haben.

Auf die motivierenden Aspekte von Wahlmöglichkeiten brauchen wir aber gar nicht gänzlich zu verzichten. Wir können den Schülerinnen und Schülern eine (reduzierte) Wahl überlassen,  

  • indem wir sie aus einer sorgfältig vorbereiteten Liste von wenigen, gleichwertigen Alternativen auswählen lassen, die sich z. B. nur in Oberflächenmerkmalen unterscheiden (z. B. im Sachkontext)
  • oder indem wir sie erst wählen lassen, nachdem sie einen (nicht zu schwierigen) formativen Test absolviert haben, der nicht der Benotung dient, sondern den Zweck hat, sie über ihren aktuellen Kompetenzstand und Lernbedarf zu informieren.
 
Manche Lehrkräfte äußern Enttäuschung über eine solche, reduzierte Vorgehensweise. Sie passt möglicherweise nicht gut zu ihrem Demokratieverständnis oder zu ihrem Menschenbild. Diese Bedenken sind sehr verständlich, aber unnötig, denn diese Kategorien stehen hier gar nicht zur Disposition. Hier geht es nur darum, wie wir die Lernenden am besten fördern. Die Ergebnisse der Lehr-Lernforschung geben hierauf eine klare Antwort. 
 

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