Im Bildungswesen gibt es seit längerem eine große Debatte, die die an ihr Beteiligten in zwei entgegengesetzte Lager teilt. Bei dieser Debatte geht es allerdings nicht um die Frage, welches Tablet-Betriebssystem für die Schülerinnen und Schüler das richtige wäre (iOS oder Android?), oder welche digitale Tafel sich im Unterricht am besten bewährt hätte (Smart oder Promethean?). Es geht um etwas viel Grundlegenderes: nämlich um die Frage, ob Unterricht – in unserem Falle Mathematikunterricht – eher durch instruktive oder eher durch konstruktive Elemente effektiv wird.
Auf der einen Seite dieser Debatte gibt es diejenigen, die glauben, dass Schülerinnen und Schüler am besten in einer nicht oder nur wenig gelenkten Umgebung lernen, in der sie die wesentlichen Informationen nicht einfach präsentiert bekommen, sondern sie selbst entdecken, erfragen oder konstruieren müssen. Ein solcher Ansatz wird unter anderem als forschendes, problem-, projekt-, oder entdeckungsorientiertes Lernen bezeichnet. Er kann auch Wochenplan, Werkstattunterricht, Stationenlernen, offener Unterricht oder Freiarbeit heißen. Obwohl diese Bezeichnungen im Detail natürlich für unterschiedliche Dinge stehen, ist ihnen doch ihr hoher Anteil an Selbstverantwortung und Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler gemein.
Lehrkräfte und Didaktikerinnen, die solche Ansätze befürworten, sehen ihre Denkrichtung gern als progressiv (kindorientiert, individualisiert, differenziert usw.) an und betonen oft deren angebliche Überlegenheit gegenüber der „früheren“ Auffassung von Lernen und Unterricht. Ihnen zufolge sei es nicht mehr die Aufgabe der Lehrkräfte, den Schülerinnen und Schülern etwas beizubringen, sondern vielmehr die Bedingungen zu schaffen, unter denen jene ihre eigenen Erkenntnisse und Einsichten entwickeln könnten.
Auf der anderen Seite der Debatte stehen diejenigen, die meinen, dass die Schülerinnen und Schüler, insbesondere in den frühen Phasen des Wissenserwerbs, eine direkte und erklärende Einführung in das Wissen erhalten sollten, das zum Verständnis eines bestimmten Konzepts erforderlich ist. Sie vertreten damit eine inzwischen wohl traditionell zu nennende Auffassung von Unterricht.
Welche der beiden Seiten hat nun mehr recht? Und gibt es überhaupt ein „richtig“ in dieser Frage? Die interessante Antwort darauf lautet: Ja, gibt es durchaus. Zumindest, wenn man weiß, was die Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht überhaupt lernen sollen. Die Antwort ist dann sogar ziemlich klar.
10 Prinzipien als Essenz Dutzender Studien
Es gibt einen Unterrichtsansatz, der in der frühen Phase des Wissenserwerbs – also in der Phase, in der die Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal mit einem Konzept oder einer Aufgabe konfrontiert werden – effektiver ist als alle anderen.
Wir wissen dies, weil eine Vielzahl von empirischen Studien in allen Teilen der Welt zu sehr ähnlichen bzw. sogar gleichen Ergebnissen gekommen sind.
Gemäß Barak Rosenshine etwa stützt sich effektiver Unterricht auf zehn evidenzbasierte Prinzipien, die aus der Kognitionsforschung und aus der Beobachtung besonders erfolgreicher Lehrkräfte gewonnen wurden. Diese Prinzipien samt ihren Umsetzungsempfehlungen lauten wie folgt:
- Beginnen Sie eine Unterrichtsstunde mit einer kurzen Wiederholung des bisher Gelernten. Regelmäßige Wiederholung kann das Gelernte festigen und zu besserem Erinnern führen.
- Präsentieren Sie neues Material in kleinen Schritten, und lassen Sie die Schülerinnen und Schüler nach jedem Schritt üben.
- Stellen Sie den Lernenden viele Fragen und berücksichtigen Sie die Antworten von allen (z. B. mit Mini-Whiteboards). Fragen helfen den Schülerinnen und Schülern, neue Inhalte zu üben und mit dem bereits Gelernten zu verknüpfen.
- Stellen Sie Modelle oder Muster zur Verfügung, an denen Schülerinnen und Schüler lernen können (z. B. vollständig ausgearbeitete Lösungen, lautes Denken etc.)
- Leiten Sie die Schülerinnen und Schüler beim Üben an (z. B. mit worked examples).
- Überprüfen Sie das Verständnis der Schülerinnen und Schüler, um zu vermeiden, dass sie neue Inhalte falsch oder fehlerhaft lernen (z. B. mit Diagnostic Questions).
- Streben Sie eine hohe Erfolgsquote an. Für die Lernenden sind hohe Erfolgsquoten sehr wichtig. Wie erreicht man sie? Siehe Punkt 2.
- Bieten Sie bei schwierigen Aufgaben Hilfestellungen an.
- Geben Sie dem selbstständigen Üben viel Raum und bleiben Sie dabei in der Nähe („Umhergehen“).
- Verpflichten Sie die Schülerinnen und Schüler zu wöchentlichen und monatlichen Wiederholungen. Die Lernenden müssen ausgiebig üben, um ein gut vernetztes und automatisiertes Wissen zu entwickeln.
Dies sind, laut Rosenshine, die Kennzeichen eines effektiven Unterrichts. Zu sehr ähnlichen oder gleichen Ergebnissen kommen auch viele andere (Meta-)Studien. Auffällig ist, dass die zehn Punkte der Lehrkraft eine steuernde und strukturierende, zugleich auch fordernde und unterstützende Rolle zuweisen. Dies sind Merkmale der Unterrichtsmethode „Direkte Instruktion“ (oder auch „Direkter Unterricht“ oder „Explizite Instruktion“, hier synonym verwendet) – einer Methode also, die zumindest im deutschsprachigen Raum fälschlicherweise mit traditionellem Frontalunterricht gleichgesetzt wird und damit als verpönt gilt. Direkte Instruktion ist aber etwas ganz anderes als Frontalunterricht, wie man z. B. gut in einer Gegenüberstellung bei Wellenreuther nachlesen kann.
Direkte Instruktion wird von der Lehrkraft gesteuert, ist aber schülerzentriert
Die Schülerinnen und Schüler sind im direkten Unterricht keine passiven Empfänger von Informationen – sie sind voll in den Lernprozess eingebunden, und zwar mehr als bei manchen weniger geführten Ansätzen, bei denen es für die Schülerinnen und Schüler durchaus viele Möglichkeiten gibt, sich zu verstecken oder passiv zu verhalten.
Der direkte Unterricht ist auch nicht zwangsläufig langweilig, wie gelegentlich behauptet wird. Das hängt zum einen mit den positiven Auswirkungen einer hohen Erfolgsquote (Punkt 7) auf die Motivation zusammen, zum andern damit, dass die Lehrkräfte die Möglichkeit haben und auch wahrnehmen, Themen und Konzepte zu vertiefen und den Schülerinnen und Schülern das Wissen zu vermitteln, das sie benötigen, um Spitzenleistungen zu erbringen.
Auch schließt dieser Ansatz hochwertige („interessante“) Aufgaben, problemlösende, entdeckende und forschungsorientierte Aktivitäten nicht aus. Auch das wird gelegentlich behauptet, als ob es nur um Drill ginge. Ich halte entgegen und berichte aus eigener und fremder Erfahrung, dass der direkte Unterricht es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, das Beste aus solchen Aktivitäten herauszuholen, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem sie dafür wirklich bereit sind.
Allerdings – und das muss ganz klar gesagt werden – ist direkte Instruktion natürlich lehrkraftgeleiteter Unterricht. Das scheint dem Zeitgeist zu widersprechen. Lehrerinnen und Lehrer lehren, ohne sich dafür zu schämen! 😉 Ich werde das in diesem Themenkreis noch näher ausführen.
Beiträge zu diesem Themenkreis
Gibt es mathematische Naturtalente?
Ist mathematische Kompetenz angeboren oder erworben?
Wie wenig Lenkung tut gut?
Selbstgesteuertes Lernen („Segeln“) ist Trend: Je weniger Lenkung, desto besser das Lernen – oder etwa nicht?