Wie motivierend sind Anwendungen?

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Dr. Michael Glaubitz

mathematik-unterrichten.de

„Wann werden wir das jemals im wirklichen Leben brauchen?“ Jeder, der Mathematik unterrichtet, hat diesen Satz aus Schülermund schon unzählige Male gehört. Auf die Frage, wie man Mathematik für Schülerinnen und Schüler interessanter machen kann, gibt es eine scheinbar einfache Antwort: Indem man die Inhalte für ihr Leben relevanter macht. Die sogenannte „Schülerrelevanz“ ist – neben dem Curriculumsbezug – eine wichtige Legitimationsperspektive für den Unterricht, den wir anbieten. Oft jedoch wird die Frage nach Relevanz mit dem Hinweis auf mutmaßliche Anwendbarkeit der Inhalte erledigt. Anwendbare oder angewandte Mathematik sei demnach auch schülerrelevante und damit interessante, motivierende Mathematik.

Im Glauben an einen solch einfachen und verlässlichen Zusammenhang verwenden viele Lehrkräfte beträchtliche Ressourcen für die Frage, wie sie reale Kontexte und „motivierende“ Anwendungen in ihren Unterricht einbauen können: Ließe sich beispielsweise nicht der spektakulär verwandelte Freistoß aus dem letzten Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft mit einer Parabelkurve und der zugehörigen Funktionsgleichung beschreiben? Ist etwas in den Nachrichten passiert, das in die morgige Mathestunde integriert werden könnte? Könnte der Flug eines durch den Raum segelnden Papierfliegers irgendwie mathematisch „modelliert“ werden, damit Schülerinnen und Schüler die Anwendbarkeit und Relevanz scheinbar abstrakter Formeln selbst erleben können?

Die Intentionen hierbei sind durchaus ehrenwert. Das Problem ist nur, dass sich solche Kontexte nur sehr selten perfekt für die Mathematik eignen, die zu unterrichten ist. Oft muss man darum eine abgewandelte, vereinfachte Version eines Sachverhalts präsentieren, die dann nur noch wenig Ähnlichkeit mit der Situation im ursprünglichen Kontext hat. Teilweise kommt es dabei zu nachgerade grotesken Verzerrungen realer Sachverhalte. Mein persönlicher Negativ-„Favorit“, auch aufgrund eigener Betroffenheit als Patient, ist in diesem Zusammenhang die unsägliche Diabetes-Aufgabe aus dem IQB-Abitur-Pool 2018.

Aber auch unabhängig von der Frage, wie ernst man manche Modelle nehmen kann, mit denen die Anwendbarkeit und Relevanz der Mathematik demonstriert werden soll, bleibt festzuhalten, dass viele Schülerinnen und Schüler diese Zusammenhänge gar nicht nützlich oder interessant finden.

Reale Kontexte - Chance oder Problem?

Wir wissen, dass es sich eigentlich positiv auf die Motivation auswirkt, wenn man den Schülern das Gefühl vermittelt, dass ihre Arbeit einen Wert hat. Daraus könnte man schließen, dass es sich lohnte, die Mathematik, die die Schüler lernen müssen, so zu präsentieren, dass sie für ihr Leben relevant (“wertvoll”) erscheint. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. 

Wenn wir eine Verbindung zwischen der abstrakten Welt der Mathematik und alltäglichen Kontexten herstellen, betonen wir einerseits tatsächlich den Nutzen der Mathematik als Sprache zur Erklärung von Mustern und Symmetrien in der „realen“ Welt. Andererseits kann das Ergebnis künstlich und konstruiert wirken, wenn wir die Erfahrungen und Daten der realen Welt manipulieren und „zurechtbiegen“, damit sie durch eine arg begrenzte Sammlung von schulmathematischen Techniken modelliert werden können. Schülerinnen und Schüler möchten sich ihr Interesse nicht aufschwatzen lassen. Sie lassen sich auch nicht für dumm verkaufen – und wenn wir behaupten, dass ein Fußballspieler zunächst die interessanten Punkte eines parabelförmigen Graphen bestimmt, bevor er seinen Freistoß ausführt, machen wir niemandem etwas vor, außer uns selbst

In der didaktischen Literatur werden drei Arten von problematischen Realkontexten identifiziert, die die Schulmathematik gewissermaßen „heimsuchen“:

1. Sinnlose Kontexte

Nehmen wir die folgende Aufgabe aus einem Mathe-Schulbuch: Max trinkt aus seinem vollen 0,4-Liter-Glas Limo. Wie viel Limo ist danach noch übrig, wenn Max 1/5 davon trinkt? (Daneben ein Bild eines Jungen, der eine Limo trinkt). 

Um den Nutzen solcher Aufgaben zu beurteilen, müssen wir uns klarmachen, was mit ihnen eigentlich bezweckt werden soll. 

Wenn es darum geht, dass unsere Schülerinnen und Schüler flüssig darin werden, Produkte von Brüchen mit Dezimalzahlen zu bilden und zu subtrahieren, dann lassen wir den Kontext besser weg und fordern unsere Schülerinnen und Schüler einfach auf, sich auf das Rechnen zu konzentrieren. Sonst müssen die Lernenden außer der Mathematik auch noch die (unnötigen) Informationen des Kontexts verarbeiten, was immer die Gefahr birgt, ihr begrenztes Arbeitsgedächtnis zu überlasten und das Lernen zu erschweren. 

Wenn unsere Schülerinnen und Schüler üben sollen, die Oberflächenmerkmale einer Aufgabenstellung zu durchdringen und die  darunter verborgene Tiefenstruktur zu erkennen, dann kann eine solche Aufgabe zwar sinnvoll sein – schließlich tauchen „eingekleidete“ Aufgaben, bei denen der Kontext ein ansonsten einfaches mathematisches Verfahren verschleiert, auch in Prüfungen immer wieder auf. Die Oberflächenstruktur wird jedoch beliebig irrelevant, wenn man kontextbezogene Probleme mit immer derselben Tiefenstruktur anbietet. Leider geschieht genau das zu oft. Die Schülerinnen und Schüler können dann aber auch ohne viel Nachdenken herausfinden, was sie tun müssen. Ein prominentes Beispiel aus gegenwärtigen Abituraufgaben betrifft die Ermittlung von Wendestellen eines Funktionsgraphen. Eine inzwischen völlig abgenutzte Formulierung („Bestimme die Stellen des größten Anstiegs“) wird im Abitur zuverlässig von allen Schülerinnen und Schülern „erkannt“ und in ein Handlungsmuster übersetzt (zweite Ableitung gleich Null setzen). Vermutlich ist genau das im Zusammenhang der Prüfung auch gewollt. Mit echter Kompetenz hat es hingegen wenig zu tun.

Wenn wir schließlich glauben, dass Fragen wie jene nach der Limo unsere Schülerinnen und Schüler in irgendeiner Weise motivieren, weil sie sich auf ihr Leben beziehen, dann machen wir uns wohl etwas vor. Schließlich wird Limo eher nicht in Bruchteilen einer Glasfüllung gemessen, und selbst wenn es so gemessen würde, wäre es unwahrscheinlich, dass sich irgendjemand beim Genuss seines Getränks über das genaue Maß Gedanken machen würde. Was bleibt, ist hingegen der schale Geschmack von Sinnlosigkeit und Banalität.

2. Verwirrende Kontexte

Kontexte können auch Fragen aufwerfen und Verwirrung stiften. Betrachten wir dazu einmal folgendes Beispiel: Das Schild in einem Aufzug besagt: „Dieser Aufzug kann bis zu 16 Personen befördern.“ In der morgendlichen Stoßzeit wollen 303 Personen mit dem Aufzug nach oben fahren. Wie oft muss er hochfahren? Der Taschenrechner liefert die Antwort 18,9375, und wir möchten hoffen, dass unsere Schülerinnen und Schüler daraus schließen, dass die richtige Antwort „19 Mal“ lautet. Aber ist die Sache wirklich so eindeutig? 

Es muss eine ganze Reihe von Annahmen getroffen werden, damit 19 tatsächlich als richtig gelten kann: 

  • dass der Aufzug bei jeder bis auf die letzte Fahrt voll besetzt ist,
  • dass niemand beim Warten die Lust verliert und lieber die Treppe benutzt,
  • dass die Begrenzung sich tatsächlich auf die Anzahl Personen und nicht etwa auf deren Masse oder Volumen bezieht,
  • dass keine der Personen, die den Aufzug benutzen, Rollstuhlfahrer ist, usw.
 

Unklarheiten wie diese treten übrigens immer wieder auch in zentralen Prüfungen auf, vernebeln die eigentlichen Intentionen einer Aufgabe und verwirren Schülerinnen und Schüler völlig unnötigerweise. Obwohl gerade Aufgaben für zentrale Klausuren jahrelang vorbereitet und von mehreren Fachleuten überprüft werden, kommt es regelmäßig zu solchen Problemen. Dies zeigt, wie schwierig es sein kann, kontextbezogene Aufgaben zu erstellen, die durch ihre Kontexte nicht unnötige Verwirrung stiften. Vor diesem Hintergrund sollten wir auch vorsichtig sein, reale Kontexte im Unterricht selbst zu verwenden.

3. Gefährliche Kontexte

Dies ist vielleicht der häufigste und zugleich problematischste Fall. Wenn wir versuchen, an die Interessen bestimmter Schüler zu appellieren, laufen wir Gefahr, diejenigen auszuschließen, die diese Interessen nicht teilen. Haben wir nicht alle schon oft das Stöhnen im Klassenraum vernommen, wenn wir wieder einmal ein (angeblich motivierendes) Fußball-Beispiel behandeln lassen?

Doch es kann auch etwas anderes passieren. Wenn wir versuchen, die Interessen der Schülerinnen und Schüler anzusprechen, verlagern wir den Lerninhalt automatisch in einen Bereich, in dem sie mehr Wissen haben. Das klingt zwar zunächst einmal gar nicht schlecht. Wenn wir uns jedoch erinnern, dass wir bei der Verwendung eines realen Kontextes diesen oft grob anpassen, vereinfachen und oft auch verzerren müssen, kann es passieren, dass unsere Darstellung des Kontexts nicht mit den Vorstellungen unserer besser informierten Schülerinnen und Schüler übereinstimmt und Widerspruch hervorruft. Dadurch werden Konflikte programmiert, die den gesamten vorgesehenen Lernprozess beeinträchtigen können.

Außerdem ist denkbar, dass Schülerinnen und Schüler ihr vorhandenes Wissen und ihre Erfahrungen auf eine Weise einbringen, die wir nicht intendiert hatten. Ein faszinierendes Beispiel hierfür findet sich in einem Aufsatz von Boaler mit dem bezeichnenden Titel: “When do girls prefer football to fashion? An analysis of female underachievement in relation to ‘realistic’ mathematics contexts”. Boaler berichtet davon, dass Mädchen versuchen, kontextbezogene Aufgaben mit ihrem vorhandenen Wissen in Verbindung zu bringen, während Jungen sich oft damit begnügen, die Aufgaben isoliert von ihren vorherigen Erfahrungen zu betrachten. Dies führt dazu, dass Jungen bei kontextgebundenen Aufgaben tendenziell erfolgreicher sind als Mädchen.

Versuche also, an die speziellen Interessen einer Gruppe von Schülern zu appellieren, um sie zu motivieren und zu aktivieren, könnte durchaus mehr Probleme aufwerfen als Nutzen erbringen.

Videos zum Einbinden von Realien

Ein weiteres Mittel zur Motivation von Schülerinnen und Schülern ist der Einsatz verschiedener Präsentationsmedien im Unterricht. Auf die Verwendung von Bildern, Animationen und dynamischer Geometriesoftware wollen wir an dieser Stelle nicht näher eingehen, sondern speziell den Einsatz von Videos diskutieren. Oftmals werden Videos als einfache Möglichkeit angesehen, mathematische Inhalte aus dem wirklichen Leben in den Unterricht einzubringen und damit Anwendungsbezug und Relevanz zu stiften. Bekannt und beliebt waren beispielsweise die Maths4Real-Videos, die immer noch auf Youtube zur Verfügung stehen (hier ein Link zum Video über quadratische Funktionen).  

Zwei Punkte sind zu berücksichtigen, wenn man solche Mittel zur Motivation von Schülerinnen und Schülern einsetzen will. Zum einen das (hoffentlich) bekannte Mantra: „Schüler merken sich, worüber sie nachdenken“. Wenn die Aufmerksamkeit der Schüler von der Mathematik auf andere, eigentlich nebensächliche Merkmale des Videos gelenkt wird (z. B. auf den coolen Sportwagen oder den spektakulären Stunt), dann lernen sie wahrscheinlich weniger Mathematik als sie könnten. 

Zum anderen hat sich in Studien gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler offenbar besser aus schriftlichen Anweisungen lernen als aus Lehrvideos, in denen Anwendungssituationen dargestellt werden. Als Grund für diese überraschende Beobachtung wird vermutet, dass die Lernenden ein Video als ein weniger schwieriges Medium wahrnehmen als schriftliches Material und daher dazu neigen, sich geistig weniger anzustrengen als bei einer als schwieriger empfundenen Lernumgebung.

Fazit

Die Einbeziehung realer Kontexte birgt nicht nur Chancen, sondern auch Risiken für den Erfolg des Unterrichts. Ihre motivierende Wirkung ist durchaus nicht unstrittig. Dies hängt damit zusammen, dass es meistens nötig ist, die Kontexte vereinfachend anzupassen und damit zugleich zu banalisieren oder zu verzerren. Noch wichtiger ist wohl, dass solche Kontexte dem Lernen der Schülerinnen und Schüler abträglich sein können, indem sie sie verwirren oder ihre Aufmerksamkeit von den eigentlich wichtigen mathematischen Sachverhalten ablenken. Die Frage nach dem Aufwand-Nutzen-Verhältnis scheint daher sehr berechtigt, zumal es bessere Möglichkeiten gibt, den Schülerinnen und Schülern dabei zu helfen, den Wert ihres mathematischen Lernens und Handelns zu erkennen.

Man kann darüber spekulieren, ob die oft gehörte Frage „Wann werden wir das jemals im wirklichen Leben brauchen?“ nicht eigentlich etwas anderes bedeutet, nämlich: „Ich verstehe das nicht“. Denn folgendes gibt zu denken: Ein Schüler, der gerade eine ganze Reihe von Aufgaben richtig gelöst hat – unabhängig von Thema oder Kontext – stellt diese Frage nicht. Sie kommt eigentlich immer dann auf, wenn etwas unverständlich erklärt wurde oder eine Aktivität schief gegangen ist. Wenn der Unterricht aber so läuft, dass die Lernenden Erfolg haben, scheint die Frage nach dem „Wofür?“ von allein zu verschwinden.

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