Wie wenig Lenkung tut gut?

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Dr. Michael Glaubitz

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Eine Erfahrung, die viele kennen

Kennen Sie das auch? Sie bereiten eine Mathematikstunde vor, in der Ihre Schülerinnen und Schüler eigenständig lernen sollen. Sie wählen oder erstellen sorgfältig Materialien und sorgen für eine gute Atmosphäre im Klassenzimmer. Sie freuen sich auf die Entdeckungsreise Ihrer Schülerinnen und Schüler und fragen sich, welche interessanten Erkenntnisse sie gewinnen werden und wie ihre Einstellung zum Fach Mathematik dadurch verbessert wird.

Doch wenn der Tag der Stunde endlich gekommen ist, verläuft sie ganz anders als erhofft. Viele Schülerinnen und Schüler haben Schwierigkeiten mit der Technik oder den Formalien, stellen banale Fragen, beschäftigen sich mit Nebensächlichkeiten oder wissen nicht, wie sie überhaupt anfangen sollen. Die Erkenntnisse, zu denen sie gelangen, sind unvollständig oder fehlerhaft. Sie geben Ihr Bestes, um die Lernenden zu motivieren und halten sich zurück, wie es bei selbstgesteuertem Lernen erwartet wird. Doch in vielen Einzelgesprächen kommen Sie nicht umhin, für Klarheit und Orientierung zu sorgen, grobe Fehler zu korrigieren und Sachverhalte, die eigentlich auf der Hand liegen oder längst bekannt sein sollten, immer wieder zu erklären. Anstatt enthusiastischer Schülerinnen und Schüler haben Sie am Ende der Stunde verwirrte, enttäuschte oder sogar frustrierte Kinder vor sich, die an sich selbst zweifeln.

Nach dieser Stunde fragen Sie sich: Was habe ich falsch gemacht? Warum hat es nicht funktioniert? 

Doch wenn Sie diese Erfahrung gemacht haben, müssen Sie nicht unbedingt die Schuld bei sich selbst suchen. Denn die häufig propagierte Annahme, dass selbstgesteuertes Lernen per se besseres und effektiveres Lernen bedeutet, stimmt in dieser Pauschalität vermutlich nicht. Es kann sogar sein, dass diese Annahme nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt.

Schülerinnen und Schüler sollen „segeln“

Es gibt viele Variationen eines Paradigmas von Unterricht, dessen Hauptmerkmal darin besteht, dass die Lernenden selbständig arbeiten und die Lehrkraft Ihnen möglichst wenig vorgibt. Wir sprechen dann vom selbstgesteuerten Lernen, kurz „SegeL“. Ausführungen dieser Idee umfassen unter anderem entdeckenden Unterricht, forschendes Lernen, problemorientierten Unterricht, Projektunterricht, Werkstattmethode, Lernen durch (Ko-)Konstruktion usw. Trotz ihrer gegenseitigen Unterschiede und jeweiligen Eigentümlichkeiten ist all diesen Verfahren gemein, dass sie den Lernenden viel Raum und Verantwortung dafür geben, ihr Lernen selbst zu gestalten und ihre Erkenntnisse und Verfahren möglichst eigenständig zu finden und zu formulieren. Anleitung, Führung oder gar Lenkung durch die Lehrkraft ist hierbei nicht nur weniger oder gar nicht gewünscht, sondern in manchen Ausprägungen nachgerade verpönt. Zurückhaltung ist angebracht. Möchten Sie begleiten und ermöglichen, nicht aber belehren.

Könnte daran etwas verkehrt sein? Nun ja – wenn man der Forschung dazu glauben mag, dann ja! Es kommt nämlich sehr darauf an, wann und unter welchen Bedingungen diese Form des Lernens eingesetzt wird. An manchen Stellen kann sie hilfreich sein, an anderen hingegen schaden. Diese Feststellung allein besagt noch nicht viel, gilt sie doch für so manche Methode. Interessant ist aber, dass die Forschungsergebnisse nahelegen, dass selbstgesteuertes Lernen deutlich häufiger schadet als man gemeinhin ahnt und dass „Segeln“ gerade an den falschen Stellen des Lernprozesses empfohlen und praktiziert wird.

Woran es beim selbstgesteuerten Lernen haken kann

Welches sind die Schwachstellen des selbstgesteuerten Lernens? Die Forschung hat folgende Punkte identifiziert:

1. Lernende verlassen ihre Komfortzone nicht

Zunächst einmal ist es nicht nur denkbar, sondern sogar sehr häufig zu beobachten, dass Schülerinnen und Schüler nicht in der Lage sind, den Anspruch, das Potenzial und die Intentionen einer für Sie vorbereiteten Lernumgebung korrekt einzuschätzen und Ihre eigenen Lernbedürfnisse in Bezug auf die Materialien und Kontexte richtig einzuordnen. Die meisten Schülerinnen und Schüler verlassen Ihre mathematische Komfortzone nicht gern. Stattdessen üben Sie lieber bekannte Inhalte oder Verfahren, die Sie sowieso schon beherrschen. Das lässt sich etwa beobachten, wenn Sie die Unterrichtszeit damit verbringen, repetitive Routinearbeiten oder Nebensächlichkeiten zu erledigen anstatt sich der eigentlichen Herausforderung zu stellen, indem Sie z. B. aktiv nach Mustern im Unbekannten suchen, Vermutungen aufstellen, Vorhersagen machen und überprüfen, Strategien überdenken und anpassen etc. Das bringt natürlich das Risiko mit sich, dass Sie scheitern und nichts herausbekommen – ein unangenehmes Gefühl. Darum halten sich viele Lernende gerne ausgiebig an das, was sie kennen und was ihnen zumindest einige kleine Erfolgserlebnisse sichert.

2. Lernanfängern fehlt die Möglichkeit zur Metakognition

Auch gibt es einen Unterschied zwischen Lernanfängern und solchen, die bereits fortgeschritten sind: Während Letztere häufig metakognitive Überlegungen anstellen können, um über die von ihnen verwendeten Ansätze nachzudenken, beobachtet man bei Anfängern oft, dass sie sich auf einen Ansatz versteifen und diesen unerbittlich verfolgen, selbst wenn er sie erkennbar nicht voranbringt. Eine diesbezügliche Studie hat zum Beispiel genau untersucht, was passiert, wenn Lernanfänger versuchen, Aufgaben eines unbekannten Typs ohne die Anleitung der Lehrkraft zu lösen. In einer 20-minütigen Unterrichtsphase verbrachten Sie dabei durchschnittlich 18 Minuten mit dem erratisch anmutenden und ineffektiven Ausprobieren eines nicht weiterführenden Ansatzes. Im Gegensatz dazu durchläuft ein erfahrener Problemlöser eine viel flexiblere und ergiebigere Mischung unterschiedlicher Aktivitäten wie Analyse, Planung, Umsetzung und Überprüfung seiner Vorgehensweise. Metakognition lässt sich allerdings nicht ohne weiteres lehren; denn sie ist per se an bereichsspezifisches Wissen geknüpft, das Sie erst noch erwerben sollen.

3. Lernende finden keinen Einstieg ins Thema und vertun Zeit

Manche Schülerinnen oder Schüler wissen einfach nicht, wie und womit Sie bei einem neuen Thema anfangen sollen. Natürlich könnte eine Lehrkraft einen Lernanfänger unterstützen und Ihnen genau diese Anleitung bieten, damit Sie in der Lernumgebung strukturiert und systematisch vorgehen können. Doch damit würden Sie sich unweigerlich der stärker gelenkten Form des Unterrichtens wieder annähern, die beim selbstgesteuerten Lernen ja eigentlich vermieden werden soll.

Angesichts dieses Dilemmas greifen Lehrkräfte zu einem Mittel, das als Deus ex machina fremde Hilfe bringt, wo doch eigentlich Selbststeuerung herrschen soll: die Tippkarte, die – möglicherweise in gestufter Abfolge – den Lernenden doch noch den Weg zur geplanten Einsicht bahnen soll.

4. Schwierigkeiten bei der Planung und förderlichen Umsetzung

In diesem Zusammenhang bleibt auch festzuhalten, dass Aktivitäten mit wenig Lenkung schwieriger zu planen und lernförderlich zu begleiten sind als solche, die von einer Lehrkraft angeleitet werden. Das hängt damit zusammen, dass es angesichts der Unvorhersehbarkeit der Lernwege, die Schülerinnen und Schüler einschlagen, fast unmöglich ist, alle denkbaren (und undenkbaren) Fehler zu antizipieren sowie angemessene Unterstützungen oder Abhilfen einzuplanen und diese womöglich noch auf Tippkarten zu materialisieren. Die immer fälligen Fragen nach Korrektheit und Gültigkeit von mathematischen Aussagen sind schon schwierig zu klären, wenn man als Lehrkraft nur mit einem einzigen Lösungsweg zu tun hat. Wie viel schwieriger ist es, wenn es nun über 20 unterschiedliche Ansätze gibt, und Sie bitten darum, dass Ihre Arbeiten zu überprüfen? Hier den Überblick zu bewahren und bei Fehlern notfalls einzuschreiten, ist hohe Kunst – und sie wäre erforderlich, damit sich keine grundlegenden Fehlvorstellungen einschleichen und festigen.

5. Schülerinnen und Schüler lernen möglicherweise nichts

Der wichtigste und wohl auch umstrittenste Einwand gegen Unterricht mit minimaler Lenkung ist, dass Lernende sich zwar sehr lange mit Problemlöseaktivitäten beschäftigen können und trotzdem fast nichts dabei lernen. Diese kühn klingende Behauptung hat mit den engen Grenzen des menschlichen Arbeitsgedächtnisses zu tun und mit dem Phänomen der kognitiven Überlastung, auf das ich bereits hier eingegangen bin, und das ich an anderer Stelle noch genauer ausführen werde.

Mutmaßliche Stärken des selbstgesteuerten Lernens

Nach diesem Blick auf Schwachstellen des selbstgesteuerten Lernens nun zu den mutmaßlichen Vorteilen, die Befürworter gerne anführen.

1. Lernende sind motivierter

Was oft als erstes herausgestellt wird, ist der motivationale Wert geringerer Lenkung. Wir haben an anderer Stelle schon herausgearbeitet, dass das Erleben von Sinnhaftigkeit und Selbstbestimmung wichtige Komponenten von Motivation sind. Weniger gelenkte Unterrichtsformen bieten in der Tat beides. Deswegen kann es sein, dass Lernende zumindest anfänglich motiviert sind – entscheidend ist aber, dass sich bald auch echte Erfolgserlebnisse einstellen. Ist dies nicht der Fall, sinkt die Motivation der meisten Schülerinnen und Schüler nämlich schnell und verbindet sich unheilvoll mit dem mathematischen Inhalt, der mathematischen Methode oder – was am schlimmsten wäre – mit dem Fach Mathematik an sich. Die jeweiligen Unterrichtsumgebungen müssen also in jedem Falle zunächst einmal so arrangiert (“gelenkt”?) werden, dass Erfolgserlebnisse sehr wahrscheinlich sind und die Lernenden Zuversicht gewinnen können. Im Hinblick auf Motivation ist übrigens auch zu bedenken, dass nicht alle Lernenden gleich „ticken“ und es durchaus Schülerinnen und Schüler gibt, die sich alleingelassen fühlen, wenn die Lehrkraft sich bei einem für sie neuen Thema sehr stark zurück nimmt.

2. Die Aktivitäten der Lernenden sind vielfältiger

Es ist sicher wahr, dass offene Lernumgebungen eine Vielzahl von möglichen Aktivitäten zulassen. Ist das aber eigentlich immer wünschenswert bzw. positiv? Abgesehen davon, dass große Freiheiten und Spielräume nicht nur motivieren sondern auch verunsichern können, verringern sie ja auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Lernenden sich mit den tatsächlich relevanten Dingen beschäftigen – gerade beim Erlernen von Grundlagen kann dies sehr nachteilige Wirkungen haben. Während ihrer „SegeL-Tour“ können Schülerinnen und Schüler auf Ab- oder Umwege geraten und abschweifen. Oder sie wählen Beispiele ungünstig aus, so dass wichtige Muster oder Beziehungen, die es zu entdecken gälte, nicht hervortreten. Im direkten Unterricht kann dies effektiver vermieden werden. Und das hat positive Wirkungen für die Nachhaltigkeit des Unterrichts – denn, wie ein wichtiger Grundsatz besagt, die Lernenden merken sich das, worüber sie intensiv nachdenken. Mit zielgerichtetem Unterricht kann man tatsächlich dafür sorgen, dass sie über das Richtige nachdenken und es einüben. Auf diesem Weg können sie Sicherheit erlangen und die Automatismen ausbilden, die sie für ihre Weiterentwicklungen benötigen. Das passiert nachgewiesenermaßen viel weniger in einem von vielen unterschiedlichen Aktivitäten geprägten Unterricht. 

3. Schülerinnen und Schüler verstehen Konzepte und spulen nicht bloß bedeutungslose Techniken ab

Was verbirgt sich nicht alles hinter dem schillernden Begriff „verstehen“! Es gibt inzwischen so viele unterschiedliche Definitionen bzw. Akzentuierungen, dass man leicht den Überblick verlieren kann. 

Ich möchte an dieser Stelle dafür plädieren, dass mathematisches Verstehen eine Mischung aus prozeduraler Routiniertheit und konzeptionellem Überblick ist, aus technischer Sicherheit und dem Verstehen von Zusammenhängen, und dass diese beiden Komponenten überhaupt keinen Gegensatz bilden. Es geht nicht um entweder „Techniken“ oder „Konzepte“, sondern um beides. Und dabei ist es keineswegs zwingend oder auch nur plausibel, dass der konzeptionelle Überblick (das konzeptionelle Verständnis) Vorrang vor der prozeduralen Sicherheit haben sollte. Im Gegenteil. 

Prozedurale Sicherheit, also Gewandtheit im Umgang mit mathematischen Techniken, Verfahren und Algorithmen ist in den meisten Situationen die Voraussetzung, um konzeptionelles Verstehen und weitergehende Fertigkeiten (z. B. Problemlösen) entwickeln zu können. Das hängt mit vielen Faktoren zusammen, u. a. mit den Gegebenheiten des menschlichen Denk- und Auffassungsvermögens (vgl. den Themenkreis Denken und Lernen). 

Braucht es eine Balance?

Eine Schlussfolgerung, die man aus der vorstehenden Auflistung von Vor- und Nachteilen des selbstgesteuerten Lernens ziehen könnte, wäre, dass eine gesunde Balance wohl das Beste wäre – dass man sowohl direkten Unterricht wie auch SegeL-Aktivitäten braucht. Das klingt natürlich genauso vernünftig wie trivial: Ausgewogenheit ist wohl immer anzustreben. Die entscheidende Frage lautet doch aber: Was heißt „ausgewogen“, welche Balance ist „gesund“ bzw. wie wenig (oder viel) Lenkung tut gut? 

Hier haben Untersuchungen ganz klar gezeigt, dass es ganz stark auf einen wesentlichen Faktor ankommt. Dieser entscheidet maßgeblich darüber, welche Alternative die jeweils bessere Wahl für den konkreten Unterricht darstellt. Bei diesem Faktor handelt es sich um das bereichsspezifische Vorwissen der Schülerinnen und Schüler.

Viel Lenkung für Lernanfänger, weniger für „Experten“

Sehr viele Studien legen nahe, dass Unterricht mit minimaler Lenkung wenig bis gar nicht geeignet ist, um Lernanfänger solide in Inhalte oder Verfahren einzuführen. Das soll indes keine generelle Absage ans „Segeln“ sein. Denn es gibt auch Anzeichen dafür, dass Schülerinnen und Schüler, die bereits über gute Vorkenntnisse verfügen, durchaus von einem Unterricht profitieren, in dem sie die Möglichkeit haben, ihre Kompetenzen anzuwenden, und z. B. reichhaltige Probleme selbständig lösen oder eigene Untersuchungen an Lerngegenständen anstellen. Es ist sogar beobachtet worden, dass solche Schülerinnen und Schüler – „Experten“ auf einem bestimmten Gebiet – Stufen erreichen können, in denen sie keinen Nutzen mehr aus direktem, angeleitetem Unterricht ziehen, sondern davon eher behindert werden (man nennt das „Expertise-Umkehr“). Eine Erklärung dafür ergibt sich aus der Theorie der kognitiven Belastung: Demnach wird das Arbeitsgedächtnis der „Experten“ durch überflüssige Instruktionen unnötig belastet anstatt entlastet. Wenn Schülerinnen und Schüler dieses Niveau erreicht haben, sind z. B. sorgfältig gewählte Erkundungsaufgaben, Impulse zu selbstbestimmten Untersuchungen und Fragestellungen mit offenem Ausgang wahrscheinlich die am besten geeignete Lernaktivität für sie.

Vom Kopf auf die Füße

Minimale Lenkung, entdeckendes Lernen gehört also ans Ende einer Unterrichtsreihe, nicht an deren Anfang, auch wenn gerade das Gegenteil immer wieder empfohlen wird. Folgende Schrittfolge hat sich als hilfreich und zielführend bewährt:

  1. Einstieg ins Thema mit einfachen Inhalten (Beispielen, Aufgaben und Fragestellungen)
  2. Unterstützung durch direkten Unterricht, viel Anleitung und „Scaffolding“ (Hilfen)
  3. Intermittierend immer wieder angeleitetes Üben
  4. Gezieltes (nicht pauschales) Feedback
  5. Selbständiges Üben und Weiterlernen mit wenig Lenkung für fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler

Der springende Punkt ist, dass es sich hierbei um eine aufeinander aufbauende Folge von Schritten, also um eine Progression handelt. Den letzten dieser Schritte an den Anfang zu setzen, ist ein Fehler, der allerdings irrigerweise oft empfohlen wird.  

Es ist i. d. R. auch falsch anzunehmen, dass die Schülerinnen und Schüler die benötigte Expertise doch schnell entwickeln würden und schon nach ein oder zwei Erklärungen und Beispielen genug verstanden hätten, um nun erfolgreich „segeln“ zu können. Mancher didaktisch kluger Rat meint, dass die Lernenden, sobald sie einige Grundlagen gelernt haben, den Rest eines Stoffes gut selbst herausfinden können, und dass etwaige Wissenslücken oder Missverständnisse sich immer noch klären ließen, wenn sich der Lernprozess um anspruchsvolle Aktivitäten (wie Problemlösen) dreht. Dies ist sehr wahrscheinlich ein Irrtum, der das Phänomen der schnellen kognitiven Überlastung nicht ausreichend berücksichtigt. Es spricht sehr viel dafür, dass die Schritte 1 bis 4 äußerst gründlich durchzuführen sind und nicht bloß überflogen werden dürfen. Erst dann ist die Zeit reif für Schritt 5.

Expertise identifizieren und nicht pauschalisieren

Wir müssen auch vorsichtig sein mit der pauschalen Annahme, dass doch jedenfalls die leistungsstärkeren Schülerinnen oder Schüler weniger angeleiteten Unterricht benötigen als leistungsschwächere. Es gibt nur sehr wenige, die mit allen Themen gut klarkommen und in allen Bereichen der Mathematik Experten (oder Anfänger) sind. Ein Schüler mag z. B. stark sein, wenn es darum geht, algorithmische Verfahren zu verstehen und anzuwenden, tut sich jedoch schwer mit geometrischen Sachverhalten und entsprechendem Vorstellungsvermögen. Es kommt daher immer darauf an, jeweils das bereichsspezifische Niveau der Lernenden zu ermitteln und ausgehend von den Ergebnissen den passenden Unterrichtsstil zu wählen.

Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen: Wenn jemand – egal, ob es sich um eine Einser-Schülerin handelt oder um jemanden, der oft Mühe hat – zum ersten Mal einem neuem Verfahren oder Konzept begegnet, ist er in jedem Fall ein Lernanfänger. Sicher sind Spitzenschülerinnen und -schüler etwas im Vorteil, da sie meist über mehr gespeichertes, organisiertes und automatisiertes Wissen im Langzeitgedächtnis verfügen, was die Aneignung von neuem Wissen viel schneller und einfacher macht. Aber sie sind im Hinblick auf das neue Thema trotzdem auch noch Anfänger. Darum sind Ansätze mit nur geringer Anleitung in der frühen Phase des Wissenserwerbs eigentlich fast nie angemessen. 

Fazit

Es gibt weder eine theoretische noch eine empirische Rechtfertigung für die Annahme, dass selbstgesteuertes Lernen pauschal die bessere Alternative sei. Ganz im Gegenteil. Diese Form des Lernens ist sehr voraussetzungsvoll und eignet sich gerade nicht für den Einstieg in ein neues Thema.

Selbstgesteuertes Lernen am Anfang ist oft nicht die beste Wahl.

Forschungsergebnisse sagen vielmehr, dass Schülerinnen und Schüler, die zum ersten Mal mit einem neuen Verfahren, Begriff oder Konzept in Berührung kommen, zunächst Erklärungen, gut gewählte Beispiele und strukturiertes Üben brauchen. Das sind Kennzeichen eines von Expertinnen und Experten angeleiteten Unterrichts, und da sind wir als Mathematik-Lehrkräfte gefordert. Gerade am Anfang neuer Themen brauchen uns die Lernenden am meisten. Diese Verantwortung dürfen wir nicht abwälzen. Unsere Verpflichtung ist es, zu lehren, auch wenn dies gegenwärtig unmodern klingt, und nicht bloß zu moderieren, zu organisieren, zu motivieren und zu assistieren. 

Schülerinnen und Schüler in diesem Sinne zu unterrichten, bedeutet übrigens überhaupt nicht, dass ihnen keine reichhaltige, anspruchsvolle und interessante Mathematik mehr geboten würde. Ganz im Gegenteil. Im gleichen Maße, in dem ihnen im angeleiteten Unterricht prozedurale Sicherheit zuwächst, erwerben sie auch die Voraussetzungen, um sich selbständig mit selbst gewählten Fragestellungen und Untersuchungsinteressen auseinanderzusetzen – zu einem Zeitpunkt, da ihnen dies echten Gewinn verschafft.

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