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Dr. Michael Glaubitz

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Es gibt eine recht weit verbreitete Ansicht, wonach Schülerinnen und Schüler den Wert der Mathematik nur dann erkennen könnten, wenn der behandelte Stoff irgendeinen relevanten Zusammenhang mit ihrem eigenen Leben hätte. Einige Lehrkräfte versuchen darum geradezu verzweifelt, auch Themen wie die Linearfaktorzerlegung einer quadratischen Form oder die Potenzregeln „lebensnah“ zu unterrichten. Ohne künstliche (und schmerzhafte) Verrenkungen ist das allerdings kaum möglich. Wenn man dies als Lehrkraft irgendwann einsieht, fällt einem zunächst einmal nicht viel mehr ein, als den Schülerinnen und Schülern zu sagen: „Hört mal, das ist jetzt so ein Thema, das wir erledigen müssen, weil es auf dem Plan steht.“ Mit einer solchen Quasi-Bankrotterklärung erreicht man natürlich nur, dass die Abneigung einiger Schüler gegen das Fach Mathematik noch stärker wird. Dabei könnte es auch anders gehen: Schülerrelevanz muss ja gar nicht mit Lebensweltbezug gleichgesetzt werden (vgl. den Beitrag „Wie motivierend sind Anwendungen?“). Mathematik kann auch interessant sein, wenn sie nicht lebensnah ist.

Die mathematischen Inhalte und Verfahren, die es in unsere Lehrpläne und Curricula geschafft haben, sind ja einmal als Antworten auf drängende Fragen oder Probleme entwickelt worden. Wenn es uns gelingt, diese Fragen und Probleme zu rekonstruieren oder wenigstens nachzuempfinden, dann verstehen wir auch den Sinn der auf sie bezogenen Mathematik.

Ein bekanntes Bonmot sagt, dass der schulische Unterricht Antworten auf Fragen gibt, die niemand gestellt hat. Ein bisschen Wahrheit ist darin enthalten. Stellen wir also zuerst mal die Fragen, bevor wir die Antworten liefern. Ein Beispiel kann verdeutlichen, wie dies gemeint ist.

Bleiben wir bei der schon erwähnten Zerlegung einer quadratischen Form in Linearfaktoren. Es ist sehr schwierig, eine lebensnahe Anwendung für dieses Verfahren zu finden, das auch 14- bis 15-jährige Schülerinnen und Schüler überzeugt. Das bedeutet aber nicht, dass das Verfahren gar keinen Sinn hätte, den nicht auch die Lernenden erkennen könnten. Um dies zu ermöglichen, gehe ich z. B. folgendermaßen vor:

Ich bitte die Schülerinnen und Schüler, jeder für sich eine Zahl zwischen 1 und 10 auszuwählen und aufzuschreiben. Dann notiere ich folgenden Term an der Tafel: x² + 10x – 39 (der mathematische Kenner erkennt den mathematikgeschichtlich berühmten Al-Khwarizmi-Term), und bitte die Lernenden, ihre jeweilige Zahl in den Term einzusetzen und den Wert zu berechnen. Nach etwa einer Minute frage ich: „Hat jemand Null erhalten?“ Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass jemand x = 3 gewählt hatte und tatsächlich Null errechnet hat. Wenn nicht, dann fordere ich die Schülerinnen und Schüler auf, nach einer Zahl zu suchen, die beim Einsetzen auf Null führt. Im Grunde probieren sie nun also, eine Lösung der Gleichung x² + 10 x – 39 = 0 zu finden. Die zugehörige Rechnung lasse ich an die Tafel schreiben, um bei der Gelegenheit gleich einmal zu sehen, ob die Schüler auch richtig einsetzen und rechnen.

Nach einem kurzen Moment sage ich: „Es gibt noch eine zweite Zahl, die beim Einsetzen in den Term auf Null führt. Wer findet sie?“ Es ist ziemlich unwahrscheinlich (und in meinem Unterricht auch noch nie vorgekommen), dass tatsächlich jemand die zweite Zahl (-13) findet. Nach spätestens fünf Minuten werden wohl alle aufgegeben haben. Dann sage ich: „Wäre es nicht toll, wenn es einen einfachen Weg gäbe, diese geheimnisvolle Zahl zu finden?“

Damit haben wir nun einen echten Grund, uns mit der Linearfaktorzerlegung zu befassen und mit ihrer Hilfe die Lösung zu ermitteln. Die Technik hat aus Sicht der Schüler nämlich einen gut erkennbaren Sinn und Zweck: Wo vorher langwieriges, ineffizientes Probieren angesagt war, herrscht nun System, Zielorientierung und auch Erfolgsgewissheit. Wichtig hieran ist, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst einmal Spannung aufgebaut haben, indem sie Erfahrungen mit einer naheliegenden, letztlich aber nicht zum Ziel führenden Methode (dem Probieren) gemacht haben. Erst dadurch wurden sie bereit dafür, eine raffiniertere Methode nicht nur zu erlernen, sondern sie auch zu würdigen. Darüber hinaus ist es hilfreich, wenn die Lernenden schon früh einen ersten Teil-Erfolg beim Lösen des Problems verbuchen konnten. Dies hat ihr Interesse wachgehalten und ihre Anstrengungsbereitschaft gefördert. 

Gelegenheiten, den Sinn mathematischer Konzepte oder Verfahren auf solche Weise zu demonstrieren, gibt es im Unterricht reichlich. Bei nahezu allen Themen, die im Unterricht behandelt werden, können wir die Frage stellen: „Auf welche Frage, auf welches Problem gibt dieses Verfahren eine Antwort? Aufgrund welcher Erfahrungen ist es entstanden?“ Wenn du diese Erfahrungen mit Schülerinnen und Schülern nachempfindest, wird ihnen ersichtlich, welchen Zweck bestimmte mathematische Themen erfüllen, selbst wenn diese keinen Bezug zu ihrer Lebenswelt aufweisen. Ideen, wie eine solche Vorgehensweise im Hinblick auf Analysis, Statistik, Geometrie und Algebra aussehen kann, findet man z. B. im Directory of Mathematical Headaches (englischsprachig).

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